Lesetipp: Charlotte Wiedemann, Der lange Abschied von der weißen Dominanz

Charlotte Wiedemann ist weitgereiste Autorin und Journalistin, die als Auslandsreporterin aus Asien, Afrika und der islamischen Welt berichtet hat. Sie schrieb u.a. für „GEO“, „Le Monde Diplomatique“ und „DIE ZEIT“ und ist Kolumnistin der „taz“. 2017 bekam sie den Spezial-Preis der Otto-Brenner-Stiftung für ihr Lebenswerk.

In ihrem Buch geht Wiedemann der Frage nach, wie eine Zukunft ohne westliche (weiße) Dominanz aussehen und gelingen kann. In kurzen Texten, die teils wie Gedankenfetzen anmuten, geht sie in sieben Hauptkapiteln auf verschiedene Aspekte der weißen Vormachtstellung in der Geschichte ein und stellt u.a. die Frage, welche Rolle der Kolonialismus, die Shoa, Gewalt, Mobilität und die Medien für diese Dominanzvorstellungen spielen. Die kurze Form der Texte ist bewusst gewählt, sie soll einladen „zum Innehalten und zum vernetzten Lesen – und auch dazu dem einen zuzustimmen und dem anderen nicht.“ (S. 12)

Dass die Zukunft nicht mehr der Übermacht der weißen Deutungshoheit gehört, ist für Wiedemann gesetzt. Sie geht vielmehr der Frage nach, wie die Abgabe dieser durch Geburt in der „richtigen“ Region und v.a. mit der „richtigen“ Hautfarbe zugefallenen Privilegien gelingen und die Zukunft diversifizierter und gerechter werden kann.

Es gelingt Wiedemann anhand ihrer Erlebnisse und Erfahrungen, historische und auch heutige Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und wie diese durch die weiße Perspektive vordergründig als vollkommen in Ordnung scheinen. An den Themen Gewalt oder Mobilität zeigt sie z.B. auf, dass Legitimität und Illegitimität oft keine Frage von gleichen Rechten sind, sondern von Privilegien. So wird Mobilität unter weißen Vorzeichen z.B. schnell zu gewünschter Mobilität und dem gerechtfertigten Streben nach Besserem. Unter nicht-weißen Vorzeichen ist es schlicht Flucht und unerwünschte Abwanderung. Beim Thema Gewalt und ihrer Anwendung zeigt sie, dass sich scheinbar immer die Frage stellt, wie viele nicht-weiße Leben gegen ein weißes Leben aufgewogen werden müssen, damit die westliche Gesellschaft Anteil nimmt? Sie deckt damit auch das Konstruieren der Begriffe weiß oder westlich und das damit einhergehende „wir“ auf und wie sie zur Erhaltung von Machtstrukturen und Vormachtstellung dienen. Ein Abschnitt des Buches befasst sich mit dem Verhältnis von Rassismus und Feminismus. Hier weist Wiedemann darauf hin, dass der Feminismus weißer (bürgerlicher) Frauen* lange als vermeintlich einzige Perspektive vorherrschte und nun von anderen feministischen Perspektiven abgelöst wird und abgelöst werden muss. Es sei wichtig, dass auch der Feminismus weißer westlicher Frauen sich seiner unbewussten Vorurteile stelle. Ebenfalls thematisiert sie das Zusammenspiel von Rassismus und Sexismus und wie – je nach Machtperspektive – Frauen* entweder als Opfer (z.B. des Islam) oder als dessen „Huren“ konstruiert werden. Sie erinnert daran, dass es höchst gefährlich ist, wie die Gewalt gegen Frauen vom Rechtspopulismus auf den vermeintlich gefährlichen schwarzen/muslimischen Mann verlagert wird und wie sexualisierte Gewalt somit zu etwas gemacht wird, das der weiße deutsche Mann nicht tut, gegen das er sogar legitim Gewalt als Gegenwehr anwenden darf. 

Ein Manko ist die an wenigen Stellen ungekennzeichnete Verwendung u.a. des N-Worts oder auch des K-Worts. Dies obwohl Wiedemann die Problematik der Begriffe durchaus bewusst ist. Hier wäre ein entsprechend sensibler Umgang wünschenswert gewesen, auch wenn die Begriffe teilweise im historischen Kontext fallen. 

Alles in allem gelingt es Wiedemann gut, der deutschen weißen (bürgerlich geprägten) Gesellschaft mit Hilfe ihrer eigenen Erfahrungen den Spiegel des verinnerlichten Rassismus vorzuhalten und so zum Nachdenken über die eigenen Vorurteile und unbewussten Denkweisen anzuregen. Sie plädiert dafür, Diversität nicht nur zuzulassen, sondern den Mut und das Vertrauen zu haben, die damit einhergehenden Unsicherheiten, Uneindeutigkeiten und vielfältigen Deutungsmöglichkeiten zuzulassen und auszuhalten.

„So oft halten wir für eine natürliche Grenze, was uns als künstlicher Horizont aufgehalst wird – und es wird daraus dann ohne Not eine Grenze des Denkbaren, Sagbaren, Machbaren. Gerade in utopiefeindlichen Zeiten, wo alle Aufmerksamkeit nur der Abwehr von Schlimmerem zu gelten scheint. Um den Aufbruch in eine Welt hinter den gemachten Horizonten aber sollte es gehen. Nichts anderes ist letztlich der Abschied von der weißen Dominanz. Eine Welt, in der Bürgerschaft und Solidarität neu bestimmt würden, unter Zuhilfenahme von allem, was es an Wissen und Werten jenseits der alten Metropolen gibt.“

Charlotte Wiedemann, Der lange Abschied von der weißen Dominanz, S. 277

Charlotte Wiedemann: Der lange Abschied von der weißen Dominanz, dtv 2019, 288 S., 18 Euro

In unserer Bibliothek entleihbar unter der Signatur: Aah 42.

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Ojdana Triplat

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