„Es war das Jahrtausend, in dem der Zweifel über die Weltbevölkerung kam. Und es normal wurde, dem Staat und den Geheimdiensten, der Presse und den Brillenträgern, dem Wetter, den Büchern, den Impfungen, den Wissenschaftlern und den Frauen zu misstrauen.“
Sibylle Berg, GRM
Wenn frau fertig ist mit diesem Buch, was bei mir lange gedauert hat, weil es für mich nur häppchenweise zu goutieren war, dann weiß sie, wie das funktioniert mit den Verschwörungsmythen. Der Verlust von Vertrauen zugunsten eines ziemlich umfassenden Misstrauens ist für mich gerade sehr real bei der Einrichtung meines neuen Laptops, von dem diverse Daten geteilt werden sollen bzw. müssen, um das Funktionieren einzelner Programme zu gewährleisten. Daten sind der Rohstoff der Gegenwart. Ihr Buch möchte Fr. Berg nicht als Dystopie verstanden wissen, es geht ums Jetzt, nah an unserer westeuropäischen Realität – und das Ende des Buches entspricht dieser.
Mit bewundernswerter Intuition (oder ist es doch der Zeitgeist oder eine profunde Recherche) greift das Buch Themen auf, die ein Jahr nach dem Erscheinen eine ungeahnte Aktualität haben. So spielen bei Sibylle Berg epidemische Viruserkrankungen und deren Potential für unterschiedliche Interessen, wie die Totalüberwachung, eine zentrale Rolle. Zu Beginn ist es noch die Zwangsimpfung gegen eine nicht näher ausgeführte japanisch-chinesische Enzephalitis, nach der sich die Menschen irgendwie komisch fühlen. Das sprunghaft vermehrte Auftreten von multiresistenten Keimen führt im Buch zu Szenerien, die wir seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie aus dem Fernsehen kennen: „Überall liegen Patienten am Boden, die Gänge überfüllt, das Personal in Raumanzüge gekleidet und so weiter… Vornehmlich sterben die Armen.“ (S. 295f.) Implantierte Chips dienen staatlicherseits der Kontrolle aller, die sich nicht kontrollieren lassen wollen. Ansonsten sorgt ein fiktives, ausgeklügeltes Punktesystem, wie es heute schon in China erfolgreich praktiziert wird, für die Lenkung und Überwachung des Volkes. Aber auch eine geniale widerständige Jugendliche nutzt den Einsatz eines durch das Trinkwasser verbreiteten Virus, um die Wirkung des Männer-Hormons Testosteron auszuschalten, mit allen seinen negativen Auswirkungen auf Frauen. Auch eine KI (Künstliche Intelligenz) und ein Quantencomputer, die schließlich das Amt des Präsidenten mittels eines Bots und eines Schauspielers übernehmen, dürfen nicht fehlen in GRM.
GMR ist das Kürzel für grime, im Englischen eigentlich Schmutz, aber auch eine vor allem in England populäre Punk-Rap-Musikrichtung, die sich im Buch von oppositioneller Artikulation zum millionenschweren Konsumartikel entwickelt, für Menschen, die ihre Individualität in überteuerten Markenschuhen zum Ausdruck bringen wollen.
Das Buch umfasst 634 Seiten, die nicht in Kapitel aufgeteilt sind, sondern in einzelne kürzere oder längere Abschnitte, an deren Beginn eine kurze Charakterisierung einer Person steht – anhand von Merkmalen wie Konsuminteressen, Intelligenz, sexueller Orientierung oder Ethnie. Jeder Abschnitt des Buches ist gekennzeichnet durch den dann nur noch fettgedruckten Vornamen oder Bezeichnungen wie EX 2297 für eine Einheit von Künstlicher Intelligenz. GRM ist eine Coming-of-Age-Geschichte über vier Protagonist*innen, die unterschiedliche Formen der sexuellen und rassistischen Gewalt erleben und erleiden. Diese vier gehen als Jugendliche gemeinsam weg aus ihrer heruntergekommenen Heimatstadt und leben zusammen in einer leerstehenden Londoner Fabrikhalle, um sich von dort aus an ihren Peinigern zu rächen. Diesem individuellen Weg des Widerstands stellt Frau Berg eine zweite Gruppe nerdiger, hackender Jugendlicher gegenüber, die das politische Unterdrückungssystem verändern wollen. Ebenso wie verschiedene andere Interessensgruppen versuchen, die Politik zu beeinflussen – von einem senilen Präsidenten und alten reichen Männern auf dem Mars über China und Russland bis hin zur KI. GRM von Sibylle Berg ist ein Buch, geschrieben sowohl aus auktorialer wie persönlicher Perspektive, im welches die Frauenperspektive weniger aktiv als passiv in Form von unterdrückten, leidenden und angepassten Frauenfiguren mit einfließt. Der Stil entspricht von Anfang an dem am Ende beschriebenen Neustart, nämlich frei von Emotionen. Ein Mitfühlen mit den Hauptpersonen Don, Hannah, Karen und Peter gelingt nicht, bei mir entstanden keine Bilder dieser Menschen, ihrer Entwicklung, ihrer Persönlichkeit. So funktioniert also der Brainfuck; glücklicherweise kann jede Leserin selber entscheiden, sich dem auszusetzen oder nicht.
„Da ist sie. Die Stunde Null nach dem Neustart der Evolution. Die ersten Menschen sind geboren. Sie öffnen ihre Augen und sehen ihre Eltern an. Ohne jede Regung. Ohne ein Gefühl. Sie lächeln, denn das ist nötig in ihrer ausgelieferten Situation. Sie lächeln, denn dann werden sie ernährt.“
Sibylle Berg, GRM
Sibylle Berg: GRM. Brainfuck, KiWi 2019, 640 S., 25,00 Euro
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