Lesetipp: Nadire Biskin, „Ein Spiegel für mein Gegenüber“

Das im dtv erschienene Buch lässt sich trotz eines wenig gendersensiblen Covers, das eine „zarte“, junge Frau oder Mädchen mit blumigem Innenleben zeigt, in die Reihe Diversität einordnen. Biskin wurde wie ihre Protagonistin 1987 in Berlin-Wedding geboren. „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ ist ihr erster Roman und in der dritten Person geschrieben, eine intensive eher leise Erzählung aus dem inneren Erleben einer jungen Berlinerin, die von ihren Mitmenschen immer wieder außerhalb der jeweiligen Mainstream-Gesellschaft gestellt wird.

Die Referendarin Huzur ist nach einem politischen Eklat zwischen ihr und einer Kollegin an ihrer Schule krankgeschrieben. Parallel zur emotionalen Entwicklung der Hauptfigur wird dieser Konflikt allmählich erzählt und konkretisiert, bis Huzur sich am Ende des Romans klar positionieren kann im Feld zwischen Anpassung und Widerstand.

Huzur nutzt die freie Zeit, um ihr unvertraute Verwandte in der Türkei zu besuchen, wo sie mit einem anderen Frauenbild konfrontiert ist. Dort erfährt sie auch von dem Schicksal der Nachbarn, einer aus Syrien geflüchteten Familie, die fremd bleiben und ausgebeutet werden. Offenbar sah sich der Vater aus materieller Not gezwungen, seine kleine Tochter zu verkaufen, während die Mutter stumm leidet.

„Manchmal ist die Erkenntnis, dass Zaynap seit Tagen verschwunden ist, wie eine Faust, die gegen Brust und Bauch schlägt, gezielte Schläge, die sie fast zu Boden werfen. Sie hat einen Verdacht, der sie quält, aber sie hat aufgehört, Fragen zu stellen, auf die sie keine Antwort bekommt.“ (S. 41)

Auf dem Weg zurück nach Berlin begegnet Huzur einem kleinen unbegleiteten, geflüchteten Mädchen auf dem Flughafen, das sie aufnimmt und trotz sprachlicher Hürden dessen Vertrauen gewinnen kann. Die gut situierten Schweizer Eltern ihres Partners erweisen sich als die Vertreter eines alltäglichen liberalen rassistischen Paternalismus.

„‚Hiba? Was für ein schöner Name.‘ Es klingt nicht so, als würde sie Hiba für einen schönen Namen halten. Eher ist ‚schön‘ hier ein Synonym für ‚fremd‘. Hiba blickt neugierig auf Ceciles Birkenstock-Sandalen. Huzur fängt ihren Blick auf, sie nennt solche Sandalen insgeheim Ziegelsteine. Cecile fragt nach der Bedienungsanleitung. ‚Wie wird der Name ausgesprochen?‘ (S. 129)

Am Ende stellt sich die Protagonistin nicht mehr die Frage, ob sie die, ihr von wohlmeinenden Mehrheitsbürgern nicht zugetraute Pflegschaft für Hiba übernehmen will, sondern steht vor der Entscheidung, ob sie sich an das herrschende System mit seinem alltäglichen Rassismus anpassen möchte oder nicht. Biskin entwirft damit ein mögliches anderes Frauenbild, einen Gegenpol zu der schweigend erduldenden syrischen Mutter. Mit Huzur gibt es auch eine kritische, messerscharf analysierende kluge Frauengestalt, die ihre Handlungsfähigkeit entdeckt und erprobt.

In Rezensionen wird häufig auf den Kontext von sich wiederholenden Stereotypien der Figur und ihrer allgegenwärtigen Fremdheit verwiesen. Eine Rezeption, die auch Fatma Aidemir (geb. 1986 in Karlsruhe) und ihrem neuen Roman „Dschinns“ über eine „stereotype“ türkische Familie in Deutschland entgegenschallt. Aber offensichtlich gibt es diese gesellschaftliche Realität, deren Erleben emotionale Spuren in Einzelnen hinterlässt, vor allem in Frauen. In der fortlaufenden Benennung ermöglicht „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ einen emotionalen Zusammenhang herzustellen und ein Verstehen zu generieren für wenig lauten Protest gegenüber den Diskursen einer Mehrheitsgesellschaft.

Nadire Biskin: Ein Spiegel für mein Gegenüber, dtv 2022, 169 S., 20,00 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Bis 2/1

Ele Grimm

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