Das umfangreiche Buch „Johnny Ohneland“ von Judith Zander (Jahrgang 1980) ist ein Entwicklungsroman, der in einer Traditionslinie steht mit sich erinnernden Frauenfiguren wie Nelly in Christa Wolfs (Jahrgang 1929) „Kindheitsmuster“ aus dem Jahre 1977. Auch die Ich-Erzählerin in „Das verborgene Wort“ von Ulla Hahn (Jahrgang 1945) von 2001 trägt die allen drei Protagonistinnen kennzeichnende Nähe zur Biographie der Autorin und einer Rolle als Außenseiterinnen in ihrem jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext.
Ähnlich mag es der historischen Gestalt Johann Ohneland gegangen sein, auf den der Titel des Buches von Zander Bezug nimmt. Als vierter Sohn Heinrich II. war er zunächst ohne Erbe ausgestattet, wurde jedoch nach dem Tod von Richard Löwenherz dessen Nachfolger als König von England zur Zeit des legendären Robin Hood im beginnenden 13. Jahrhundert. Ohne Glück oder besser ohne Geschick, weil von Habgier getrieben, gelingt es ihm nicht, die englischen Herzöge hinter sich zu versammeln. Diese zwangen ihn 1215 die berühmte Magna Charta Libertatum zu unterschreiben, die die Rechte des Adels und der Kirche, vor allem aber deren Besitz, schützen sollte. Seit dem 17. Jahrhundert erlangte die Magna Charta den Ruf, traditionelle englische Freiheitsrechte (für Eigentümer)zu garantieren, ebenso wie die in der sich gründenden USA im 19. Jahrhundert.
Auf welchen Aspekt der historischen Gestalt sich die Autorin von „Johnny Ohneland“ bezieht, erschließt sich nicht eindeutig. Als Parallele liegt nahe, dass Freiheit immer eine vermeintliche bleibt, sei es als König, als Besitzender, als Bürger der BRD, als Teil des kapitalistischen Systems, als Frau oder Mann. Gerade wegen seiner Mehrdeutigkeit wird das Buch dem weitgefächerten Horizont aus historischen und literarischen Kontexten gerecht und fügt dem langen Literaturkanon von coming-of-age Geschichten eine moderne Variante hinzu. Die Sprache der Lyrikerin Judith Zander ist eindrücklich und gespickt mit assoziativ eingeflochtenem Sprachmaterial aus Songtexten, (groß)elterlichen Sprüchen sowie finnischen und englischen Floskeln. Fast ausschließlich im intensiven „Du“ geschrieben, entsteht ein intrapsychischer Monolog, der sich interpersonell an eine abwesende Mutter richten könnte und gleichzeitig die Leserin in eine intensive innere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte schickt.
Im Gegensatz zu Wolf mit ihrem politischen Anspruch der Aufarbeitung der nationalsozialistischen und Hahn mit einem eher persönlichen Anspruch der 1990er Jahre, interessiert sich Zander vor dem Hintergrund einer Kindheit in der DDR und einer Jugend in der Wendezeit dafür, „einen Zusammenhang herzustellen zwischen zwei äußersten Punkten und dem Dazwischen“. Dieses als non-binäre und fluide zu verstehende Identitätskonzept muss die Protagonistin Joanna, die sich seit ihrem 10. Lebensjahr nach einem (sterbenden) Westernheld Johnny nennt, schmerzlich mit Leib und Seele erleben im Kontext einer geschlechtlich nicht festgelegten Identität und auf der Suche nach einer dazu passenden Sexualität.
Den erzählerischen Rahmen des Romans bildet ein Flug von Australien zurück in die „vaterländische Fremde“ (S. 13) an einem 2. September in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts. Auf dieser Reise in der Luft und ohne Kontakt zum Boden, mit einem verschwimmenden Hier und Jetzt, gerät Johnny aus „der Sicht“ und drängt sich dennoch auf. Die verschiedenen Stationen dieser Reise in die Erinnerung, der eigenen Konstitution wie deren Bedingungen sollen hier nicht näher ausgeführt werden, zumal die Geschichte nur die Folie bildet für ein poetisches Bad in Worten und in einer sich immer wieder entziehenden Eindeutigkeit des Realen.
Judith Zander: Johnny Ohneland, dtv 2020, 525 S., 25 Euro
In unserer Bibliothek entleihbar unter der Signatur: R Zan 1
Gabriele Grimm, Literaturwissenschaftlerin