Das Buch „Selbstverteidigung“ der französische Philosophieprofessorin Dorlin stellt einen wichtigen Beitrag zu einer feministischen Perspektive auf die Historie, die Realität und die konstituierende Bedeutung von Gewalt dar. In ihrer Analyse historischer wie aktueller Beispiele benennt sie in Anlehnung an Foucault Dispositive der Macht, also begrifflich fassbare Vorentscheidungen, innerhalb derer sich die Diskurse und die sozialen Praktiken abspielen. Eine Subjektwerdung der Moderne findet danach im Spannungsfeld von ermächtigender und entmächtigender Gewalt statt. Dabei bedient Dorlin nicht die herkömmliche Opfer-Täter-Dynamik oder deren gewohnte geschlechtliche Zuteilung, sondern zeigt deren Bedingungen auf.
Der Prolog von „Selbstverteidigung“ beginnt sehr emotional bis hin zur körperlichen Betroffenheit mit der Beschreibung einer beispiellosen Foltermethode aus dem Jahr 1802 in der französischen Kolonie Gouadeloupe. „Bei einem Dispositiv dieser Art findet der Verurteilte den Tod, weil er Widerstand geleistet hat; weil er verzweifelt versucht hat, dem Tod zu entkommen.“ (S. 7)
Die Nähe zu immer wieder kehrenden Ereignissen in den USA und der black live matters – Bewegung zeigt die historisch kaum veränderten Traditionslinien, nach denen die Gesellschaft sich aufteilt in diejenigen, die ihr Leben und ihr Hab und Gut verteidigen dürfen und denjenigen, die es nicht dürfen. Zu dieser Machtpraxis gehört außerdem, dass selbst wenn die Unterworfenen sich nicht wehren, sie trotzdem als Angreifer getötet werden. Selbstverteidigung ist somit ein auch juristisch untermauertes Privileg der Mächtigen, um Ohnmächtige und solche, die die Macht gefährden könnten, in Notwehr zu töten. Im Kontext mit ihrer eigenen Geschichte als schwarze Frau verweist Dorlin auf die kontinuierliche Prägung, der Frauen unterworfen sind qua zugeschriebenen geschlechtlichen Rollenvorgaben und die einen feministischen Ansatz erfordern, der private Macht- und Gewaltverhältnisse zu politischen macht.
In den ersten drei Kapiteln beschäftigt sich Dorlin ausführlich mit historischen Beispielen und deren Implikationen, die bis heute wirksam sind. Die Mechanismen der kolonialen Unterdrückung und Entsubjektivierung von Indigen und Sklaven werden benannt, diese dürfen keine Waffen tragen und praktizieren im Tanz ihre Selbstverteidigung. Verschiedene Haltungen gegenüber Selbstverteidigung bei der jüdischen Bevölkerung im Warschauer Ghetto und im Rahmen von Progromen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verbindet Dorlin durchaus kritisch mit dem nationalistisch und rassistisch agierenden Zionismus. Die Verbreitung von asiatischen Kampfkünsten in Europa erlaubte es auch Frauen, sich zu verteidigen oder wie die Sufragetten diese für ihr politisches Handeln zu nutzen.
Ein Kapitel zu den Philosophen Hobbes und Locke verdeutlicht, wie das Recht auf Selbstverteidigung ein ungleich verteiltes ist, sich sozial und national ausdehnt, vor allem geprägt durch und prägend für ein unternehmerisches Modell. Besitzenden ist es erlaubt, sich und ihr Hab und Gut selbständig zu verteidigen, was vor allem in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu bewaffneten Milizen führte, die wie maskierte Heroen Jagd auf unliebsame Menschen machten, statt wie die Figur der Justitia, ohne Ansicht der Person Recht zu sprechen.
Ein Kapitel des Buches beschäftigt sich mit einer weißen Justiz , die zu einer Lynchjustiz wird im Namen einer vermeintlichen Schutzbedürftigkeit der weißen Frau, die als Soldatin Anfang des 20. Jahrhunderts wiederum nicht-weiße Männer z.B. in Abu Ghraib foltern darf, um die sogenannte Zivilisation zu verteidigen.
Schließlich zeigt Dorlin anhand der Bewegungen von Black Panther seit den 50er, der Gay Liberation seit den 60er und den feministischen Bewegungen seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, wie empowerment funktioniert. Den Bildern in Kampagnen, die gegen Männer-Gewalt aufrufen sollen, den Opferstatus von Frauen jedoch nur festigend wiederholen, stellt Dorlin ihre ausführliche Interpretation eines skandalisierten Romans aus dem Jahr 1991 „Schmutziges Wochenende“ von Helen Zahavi gegenüber, in dem eine Frau sich verteidigt.
Die Vielzahl von spannenden historischen Informationen und Herleitungen schaffen ein oft atemberaubendes Leseerlebnis, Inhalte bleiben dadurch trotz der von Rezensenten kritisierten Theorielastigkeit gut verstehbar bis spürbar. Dorlin verweigert sich gemäß ihrer theoretischen Ausgangsbasis einer eindeutigen Bewertung von Gewalt und Gegengewalt. Ihr Anliegen ist es, das spezifische Funktionieren von gesellschaftspolitischer Gewalt als Herrschaftssicherung aufzuzeigen und deren Bedeutung für eine gefühlte und gelebte Subjekthaftigkeit. Das Buch schließt mit der Beschreibung eines Mordes an einem schwarzen Schüler im Jahr 2011, der Täter wird frei gesprochen mit dem Argument, er habe aus einer begründeten Furcht um die eigene Unversehrtheit gehandelt, also aus Notwehr, die somit einen paranoiden Mord kaschiert. Dies war, wie wir wissen nicht die letzte rassistische oder sexistische Gewalttat, deshalb bleibt es unabdingbar für alle „unwerten“ Wesen und überwiegende Zahl von Frauen weltweit, die kein Recht auf Selbstverteidigung besitzen, dass sie sich wappnen. Diese Haltung begreift Dorlin als ohnmächtige Machttechnologie, als „dirty care“ (S. 222), eine Selbstverteidigung über Anpassung, Empathie und Identifikation, um sich in Sicherheit und auf Abstand vor Gewalt zu bringen. Eine Ethik der Ohnmacht sollte auch die Frage stellen, ob der folgende (Schluss-)Satz allgemein gültig sein kann: „Wenn die Beute auf Jagd geht, wird sie nicht ihrerseits zum Jäger.“ (S. 227)
Elsa Dorlin: Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt, Suhrkamp 2020, 315 S., 32 Euro
In unserer Bibliothek entleihbar unter der Signatur: Aaf 67
Gabriele Grimm