Dieser zweite Band einer Reihe mit dem Titel „Gelebte Utopien“ nennt keine Verfasserin, sondern ein Autor_innnenkollektiv im Kontext der kurdischen Jineologi-Akademie (jin bedeutet Frau, loji kommt von logos und meint Wissenschaft). Ein ‚Wir‘ als Fixpunkt benennt das Ziel des Buches nicht als Selbstzweck, sondern um Entwicklungen zu dokumentieren und zu weiteren Fragestellungen wie neuen Erkenntnissen anzuregen, um so „die Frauenrevolution zu verteidigen und ihren Funken weiter zu tragen“ (S.13).
Dem blutigen Bürgerkrieg in Syrien geht schon länger als 2011 eine gewaltsame Verfolgung der Kurd:innen und ihrer Kultur in der Türkei voraus. Der enge, schon emotional zu nennende Bezug auf die PKK und deren Führer Öcalan befremdet auf den ersten Blick die:r westeuropäische Leser:in. Eine Vielzahl von Interviews von Frauen und deren persönliche Berichte über ihr Leben eröffnen eine neue Perspektive auf die spezifischen Voraussetzungen einer patriarchal geprägten Kultur und deren Veränderbarkeit durch Frauen und ihre eigenen Strukturen. Spannend ist dabei, dass auch westeuropäische Frauen, ohne traditionell in der kurdischen Kultur verwurzelt zu sein, in Rojava, der kurdisch geprägten Region im Nordosten von Syrien, eine neue Heimat und einen neuen Namen gefunden haben. Die kurdische Freiheitsbewegung ist gekennzeichnet durch ein klares Muster von parteipolitischen Organisationsformen, deren Handlungskonzepte eng orientiert sind an den von Apo=Onkel=Öcalan entwickelten Begriffen wie Xwebun. Dieser meint ein differenziertes Konzept der Selbstwerdung unter Berücksichtigung physischer, ökonomischer wie politischer bis mentaler Parameter einschließlich emotionaler Faktoren. Auch eine Veränderung des traditionellen Bildes von Männlichkeit ist dabei miteingeschlossen.
Den Großteil des 550 Seiten umfassenden Buches mit vielen schwarz-weiß Amateur:innen-Fotos von Frauen – einzeln und in Gruppen – bildet die Schilderung der Befreiungspraxis, z.B. aus Zwangsehen oder Mangel an Bildung, inklusive der Schilderung, wie das Leben in einem Frauendorf funktioniert.
Persönlich fand ich das Buch nach anfänglicher Irritation über eine Lebenswelt, die weit von meiner eigenen entfernt ist, überaus spannend und ließ mich über den eigenen Tellerrand schauen. Das Anliegen des Buches besteht jedoch auch darin, einen Bezug zu internationalen wie historischen Strömungen von (Frauen-)Widerstand herzustellen. Das Konzept einer feministischen Internationale sieht dabei ihren Ausgangspunkt in lokalen Fraueninitiativen und Frauenkämpfen, um weltweit einem globalen kapitalistischen System mit konföderalen Strukturen zu begegnen. Dieser unbedingt wichtige Ansatz verbleibt meines Erachtens in der Theorie, die noch eine praktische Vernetzung braucht.
Herausgeber_innenkollektiv: Wir wissen, was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien Band II, edition assemblage 2020, 560 S., 15 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Kea 81
Ele Grimm