Lesetipp: Julia Phillips, „Das Verschwinden der Erde“

Wo genau ist noch mal Kamtschatka?

Julia Philipps, eine US-amerikanische Autorin, hat während ihres Studiums eine Weile in Moskau gelebt sowie mit einem Fulbright-Stipendium in Kamtschatka zum Thema „Einfluss von ausländischen Investitionen und Tourismus auf die Region Kamtschatka“ geforscht. Die russische Halbinsel hat sie auch zum Schauplatz ihres Debutromans erwählt, was ihr von einigen Kritiker*innen als kulturelle Aneignung vorgeworfen wurde. Genau dieser Blick von außen auf eine den meisten Menschen unbekannte Region ist es aber auch, der das Buch so einzigartig macht.

Die Geschichte beginnt damit, dass zwei kleine Mädchen von einem Mann in sein Auto gelockt werden und spurlos verschwinden. Die Suchaktion, die sich über fast ganz Kamtschatka, das weitgehend von der restlichen Welt abgeschnitten ist, erstreckt, bleibt erfolglos. Hier könnte sich nun eine Kriminalgeschichte unter vielen entwickeln. Tut es aber nicht. Denn die Autorin verwendet das Verschwinden der Mädchen als roten Faden, um uns eine Region und ihre Menschen näherzubringen. Der Roman umfasst den Zeitraum von einem Jahr, die 12 Kapitel tragen die Namen der Monate.

Jedes Kapitel erzählt die Geschichte einer anderen Frau: Da ist Mascha, die beruflich erfolgreich in Moskau lebt und Silvester mit ihren alten Freunden in der alten Heimat feiert. Von denen darf keiner wissen, dass sie lesbisch ist, weil das gefährlich ist in einer traditionellen, von Männern dominierten Welt. Oder Soja, die Ehefrau des mit dem Entführungsfall beauftragten Kriminalbeamten, die nach der Geburt ihrer Tochter den Beruf aufgegeben hat, sich nach ihrem alten Leben sehnt und von aufregenden sexuellen Begegnungen mit fremden Männern träumt. Außerdem die Studentin Ksjuscha, Angehörige einer Rentierzüchterfamilie aus dem Norden, die ihrem Verlobten in der Heimat über jeden ihrer Schritte Rechenschaft ablegen muss, sich einer Tanzgruppe anschließt und dort das erste Mal das Gefühl von Freiheit kennenlernt. Nicht zu vergessen Alla, die ein Kulturzentrum leitet, eine schwierige Beziehung zu ihren Kindern hat und deren jüngste Tochter vor einigen Jahren ebenfalls spurlos verschwunden ist.

Die Leben all dieser Frauen sind, obwohl sie zum Großteil nichts miteinander zu tun haben, doch an der einen oder anderen Stelle miteinander verwoben. Der Titel des Buches, Das Verschwinden der Erde, bezieht sich übrigens auf eine alte überlieferte Legende über eine Stadt in der Region, die eines Tages einfach im Meer verschwunden ist. Dieses Gefühl des Verschwindens, des damit einhergehenden Verlustes, der Trauer, des Traumas ist es, was all diese Frauen, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, gemein haben. Verlust der Unabhängigkeit, des Ehemannes, des Jobs, der Schwester, der Tochter, der Freiheit, der besten Freundin.

Noch ein zweiter roter Faden zieht sich durch den Roman: Die Männer, die zwar in den einzelnen Geschichten nur Nebenfiguren abgeben, jedoch das Leben der Frauen dominieren, über sie bestimmen, ihren Status Quo als „die, die das Sagen haben“ aufrechterhalten. Und in einem Land, das von so vielen unterschiedlichen Ethnien bewohnt wird, spielt natürlich auch das Thema Rassismus eine große Rolle.

Aus diesen allgemeingültigen Themen sowie den einzelnen Schicksalen webt Julia Phillips ein Panorama einer uns fremden Welt. Und das in einer klaren, präzisen Sprache (hier auch ein Dank an Pociao und Roberto de Hollanda für die schöne Übersetzung) und ganz nah an ihren Figuren. Ein Roman, der bis zuletzt die Spannung hält, und der Lust macht auf mehr: mehr von dieser Autorin und am liebsten auch mehr über jede der Frauen, die uns hier begegnet ist.

Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde, dtv 2021, 376 S., 22 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Phi 1/1

Link zur Verlagsseite

Martina Druckenthaner

Kommentare sind geschlossen.