Lesetipp: Yoko Ogawa, „Insel der verlorenen Erinnerungen“

Der Roman ist ein internationaler Bestseller einer der wichtigsten japanischen und vielfach preisgekrönten Autorinnen der Gegenwart. Geboren1962 ist Ogawa eine Vielschreiberin, deren jetzt vorliegendes Buch bereits 1994 in Japan veröffentlicht wurde, aber erst seit seiner Übersetzung 2019 ins Englische und einer Nominierung für den National Book Award nun auf Deutsch erscheint. Als Dystopie wird „Die Insel der verlorenen Erinnerung“, mit dem Titel „Memory Police“ in der englischen Übersetzung, von Rezensent:innen gerne in die Tradition großer Schriftsteller wie Bradbury, Orwell und Auster eingereiht wird, weshalb vielleicht das Lay-Out von Titel und Autorin einem goldenen Orden ähnelt, während das Cover ein sich allmählich fragmentierendes Frauengesicht zeigt.

Die Geschichte beginnt in der Kindheit der Ich-Erzählerin auf einer nicht weit vom Festland gelegenen Insel. Die Mutter, die als Bildhauerin Gefühlen eine Form gibt, versucht ihrem Kind Dinge ans Herz zu legen, die aus der Welt verschwunden sind. Gleichzeitig tröstet sie ihre Tochter damit, dass Vergessen nicht weh tue und auch nicht traurig mache. Das gilt dann auch für den frühen Verlust der Mutter, nachdem diese von der Erinnerungspolizei abgeholt wird, um nie wieder zu kommen. Aber die Erinnerung an sie bleibt in Form von Skulpturen, von denen einige kostbare, da sonst nicht mehr existierende Schätze in sich tragen, doch bleibt auch deren Bedeutung erhalten?

Als junge Frau lebt die Protagonistin allein und zurückgezogen als Schriftstellerin. Einzig ein alter Mann steht ihr nahe, der auf dem vor sich hin rostenden Wrack einer Fähre wohnt, die er einst reparierte, aber die schon längst nicht mehr fährt. Nach den Dingen verschwinden allmählich auch die Erinnerung an diese, das Wissen über ihren Sinn geht verloren ebenso wie die emotionale Verbindung. Nur wenige Menschen können nicht vergessen, und diese sind wie die Mutter gefährdet. Auch der Lektor, der das neue Buch der Ich-Erzählerin, gehört zu diesen Menschen und sie versteckt ihn in ihrem Haus in einer geheimen Kammer.

Der parallel in einer anderen Schrift abgebildete, gerade entstehende Roman der Ich-Erzählerin berichtet von einem Gewaltverhältnis zwischen einer jungen Frau und ihrem Lehrer für das Schreiben auf einer Schreibmaschine, dieser nimmt ihr die Stimme und die Freiheit.

In der durch staatliche Gewalt sich stabilisierenden Diktatur gibt es ein geheimes Liebesverhältnis, bei dem der Mann sich bemüht, die Schriftstellerin zu halten als Person und in ihrer Funktion als sich erinnernde und gestaltende Schreiberin. Der Roman im Roman hingegen beschreibt die private Gewalt, beide Formen der Gewalt lassen keine Hoffnung mehr zu, weder auf Rettungsinseln im privaten Bereich noch im hier bewahrenden politischen Widerstand. Freiheit findet sich nicht in engen Kammern, wenn dann nach Ogawa im Herzen, auf das immer wieder vom Lektor hingewiesen wird.

Die Bedrückung, die sich teilweise angesichts dieser Hoffnungslosigkeit einstellen könnte wird in mehrfacher Hinsicht immer wieder aufgebrochen. Die Bewohner der Insel beruhigen sich ebenso wie die Ich-Erzählerin sehr schnell, nachdem etwas verschwunden ist, von Rosen über Hüte und Bücher bis zu den Jahreszeiten. Der Widerstand, den die Protagonistin mit dem alten Mann leistet, wird unprätentiös beschrieben, sorgt aber immer wieder für spannende und überraschende Momente. Der Erzählraum ist bestimmt von einer realistischen Darstellung, die sich nach und nach reduziert, aber der sich in seinen phantastischen Aspekten gleichzeitig erweitert.

Ob es sich um einen feministischen Roman handelt, möchte ich nicht entscheiden, das Verschwinden der Welt der Dinge kann allegorisch für die entmenschlichte Welt der Waren verstanden werden. Der Wert von Bindung und Solidarität geht für alle verloren, wenn keiner sich mehr erinnern kann oder keine mehr darüber schreibt. Doch genau das tut Ogawa, ihr Erzählen verhindert das Verschwinden, nicht jedoch die Gewalt gegenüber Frauen, die auch immer wieder abgebildet und benannt werden sollte.

Yoko Ogawa: Insel der verlorenen Erinnerungen, Liebeskind Verlagsbuchhandlung, 2020, 352 S., 22 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Oga 1/1

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Ele Grimm

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