Lesetipp: Priya Basil und Jia Tolentino

Das Genre, eine Sammlung von Essays, und die interessante Gestaltung des Covers verbinden diese beiden Bücher miteinander. Den Hintergrund für den Titel „Im Wir und Jetzt“ bildet ein Foto mit einem bunten Muster verwobener Fäden. „Trick Mirror“, Zerrspiegel einer Verblendung oder Täuschung in der wörtlichen Übersetzung, zeigt Namen, Titel und Untertitel in gedecktem Pink, Orange und Gelb mittig vertikal gespiegelt, also auch auf dem Kopf stehend. Diese visuellen Arrangements präsentieren nonverbal die verschiedenen Schreib-Konzepte der beiden Autorinnen, die eine assoziativ, die andere analytisch ungewöhnliche Perspektiven aufzeigend.

Priya Basil wurde 1977 in London als Tochter indischstämmiger Eltern geboren und wuchs in Ostafrika auf. Nach ihrem Studium in Großbritannien und der Arbeit in einer Werbeagentur, lebt sie seit 2007 als Schriftstellerin in Berlin. Der meines Erachtens geniale Titel ihres inzwischen sechsten Buches verspricht leider mehr als der Inhalt hält. Die beiden Essays mit den Titeln „Fight“ (56 Seiten) und „Subjekte der Begierde“ (101 Seiten) bestehen aus sehr kleinen Textabschnitten, die dem heutigen „Zettelkasten“-Computer entspringen mit vielen Zitaten von Arendt bis Thembey und die auftreten wie die inzwischen unumgängliche digitale Kommunikation. Der ebenfalls unumgängliche Bezug auf die eigene Biographie, hier die Verortung der Autorin zwischen ihrer mondänen Großmutter und ihrer stillen Mutter, bleibt leider oberflächlich. Die von Basil vorgeschlagenen Strategien eines feministischen Kampfes sind breit gestreut, von Kinderbetreuung über Gott ohne geschlechtliche Zuweisung bis zu einer Gleichstellungspolitik für ein „einigermaßen anständiges Leben“ (S. 65).

Welche Begierde und welche Subjekte der zweite Teil des Buches meint, verbleibt im Ungewissen. Die Überschrift könnte implizieren, dass Frauen bisher verhaftet im Status eines Objekts des (männlichen) Begehrens waren und wie im ausgeführten Kontext zu Subjekten werden im (kapitalistischen) Kaufrausch. Es geht also um Mode und um 39 Frauen, die von einer nicht namentlich genannten großen Modezeitschrift beauftragt wurden, ein Modeheft zu gestalten. Assoziativ, aber immer bezogen auf Prozesse der Spiegelung des Ichs durch das blickende und sprechende Du im Kontext von Mode und Produktion, schildert die Autorin als eine der 39, bewundernd das professionelle Setting und die bunte Diversität der Frauengruppe. Der Schlusssatz ohne Schlusspunkt besteht aus ca. 100 Mal dem Wort „dich“, eingeführt mit den eher ichbezogenen Sentenzen: „Sehen kann uns betrügen, entzweien lassen. Dennoch suchen wir weiter, auf der Suche nach jenen Augenblicken, in denen das Sehen uns bekräftigen, erweitern, befreien kann. Das lerne ich immer wieder beim Schreiben. Ich lerne immer wieder durch den Feminismus. Ich lerne es durch dich dich dich“ usw. (S. 170)

Die 1988 geborene Kulturkritikerin Jia Tolentino hat da ein wenig mehr zu bieten in ihren insgesamt neun Essays, die alle verbunden sind mit eigenen Erfahrungen aus unterschiedlichen Lebensphasen, die die Autorin durchaus selbstkritisch betrachtet. Ihr Stil bleibt dabei forschend, manchmal spiralig in der Argumentation und immer bereit, auch die eigene Selbsttäuschung in den Blick zu nehmen. Daher wird der deutsche Untertitel mit einem „inszenierten Ich“ nicht der Verblendung und ihrer manipulativen Mechanismen als Kulturpraxis gerecht, die für mich im Zentrum dieses klugen und spannenden Buches stehen.

Mit einigen Themen und Figuren, die in der amerikanischen Kultur verankert sind, kann die europäische Leserin nicht so viel anfangen, wie etwa eine bestimmte Reality-Show in „Mein Reality-TV-Ich“ oder die vielen benannten Protagonistinnen amerikanischer Kinder- und Jugendbücher in „Pure Heldinnen“. Dafür fühlte ich mich gut unterhalten durch die „Optimierung ohne Ende“, wo eine von der Autorin selbst praktizierte Trainingsmethode, die Ernährungsgewohnheit „chopped salad“ sowie ein überteuertes Sportbekleidungslabel in ihrer Geschichte und Wirkung detailliert und humorvoll beschrieben werden. Am Ende landet die Leserin gemeinsam mit der Autorin genau da, wo frau sich am Anfang des Essays eher vehement abgegrenzt hat, dem offenbar doch nicht selbst entworfenen Ideal-Bild einer Frau. „Alte Anforderungen (an Frauen) wurden nicht gestürzt, sondern neu vermarktet (vom Mainstream-Feminismus). Schönheitsarbeit heißt nun ‚Self-care‘, damit sie progressiver wirkt.“ (S. 106)

Der Artikel „Die schwierige Frau“ analysiert vor dem gleichen Hintergrund des Mainstream-Feminismus die veränderte Rezeption von weiblichen VIPs in der Yellow Press. Der Begriff „popfeministischer Celebritydiskurs“, der Kritik an öffentlichen Frauen generell derzeit nicht gelten lassen möchte, oder die Überhöhung der Bitch als befreite Frau, verweist gekonnt auf die Fallen des populären Feminismus.

Die „Geschichte einer Generation in 7 Betrugsmaschen“ erzählt von richtigen fake-Projekten bis zu den sehr erfolgreichen wie skrupellosen Erfolgskonzepten der Männer Zuckerberg, Bezos und Trump. „Betrug zahlt sich aus!“ (S. 236)

Aufwühlend ist die komplexe Auseinandersetzung Tolentinos mit dem Thema sexuelle Gewalt im Text „Wir kommen aus Old Virginia“ am Beispiel der Universität von Virginia, die sie selbst besucht hat. Ein aufdeckender Artikel im „Rolling Stone“ 2014 zum Thema sexuelle Übergriffe auf dem Campus sorgte für viele Diskussionen, da die betroffene Zeugin sich im Nachhinein als nicht objektiv erwies. Der Umkehrung von Täter und Opfer im Topos der rachsüchtigen Frau setzt Tolentino den Topos der unsichtbaren und selbstverständlichen, da alltäglichen Gewalt von Männern gegenüber. So gründete der für seine Zeit als fortschrittlich bekannte US-Präsident Jefferson 1819 im Alter von 76 Jahren die UVA, als eine säkulare und öffentliche Universität in Virginia für alle weißen Männer. Gleichzeitig hatte er 30 Jahre lang eine zwar nicht öffentliche, aber allseits bekannte Beziehung und zahlreiche Nachkommen mit seiner 30 Jahre jüngeren Sklavin Sarah Hemmings, von der nicht einmal ein Bild existiert, deren Biographie jedoch inzwischen in einer Ausstellung gewürdigt wurde. Neben dem rassistischen Aspekt von sexueller Gewalt geht es Tolentino, selbst eine Woman of Colour, auch immer wieder um die öffentliche Darstellbarkeit dieses Themas von Entlarvung bis Widerstand. „Mittlerweile glaube ich, dass man über sexuelle Gewalt nicht schreiben kann, wenn man sich auf irgendeine Art der Anomalie bezieht. Die Wahrheit über Vergewaltigung ist, dass sie keine Ausnahme darstellt. Sie ist nicht anormal. Und es gibt keinen Weg, daraus eine zufriedenstellende Story zu machen.“ (S. 276)

Frau muss nicht immer mit den Argumentationen von Tolentino einverstanden sein, der Bestseller bietet eine unterhaltsame und gut lesbare Lektüre, die zum Nach- bzw. Überdenken anregt.

Priya Basil: Im Wir und Jetzt. Feministin werden, Suhrkamp 2021, 175 S., 14 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Abb 90

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und

Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich, S. Fischer 2021, 362 S., 22 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Ga 5

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Ele Grimm

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