Lesetipp: Lucy Fricke, „Die Diplomatin“

„Die Diplomatin“ ist bereits der fünfte Roman der 1974 in Hamburg geborenen Schriftstellerin Lucy Fricke, die vorher lange als Cutterin beim Film arbeitete. Der szenische Aufbau und die starken Bilder, die sie beschreibt, zeigen deutliche Spuren dieser Kompetenz. Ihr erster Erfolgsroman „Die Töchter“ wurde bereits erfolgreich verfilmt und auch der neue Roman von Fricke könnte ein Drehbuch für einen Prime Time-Thriller in den öffentlich-rechtlichen Kanälen abgeben.

„Die Diplomatin“ beginnt in Uruguay, wo die Ich-Erzählerin sich als neue Botschafterin fragt, was die Erwartungen an sie sind. So ist ein Problem die Frage: „Wo kriege ich die beste deutsche Wurst her für die deutsche Einheitsfeier?“ Die frisch ernannte Diplomatin stammt aus Hamburg und wuchs in prekären Verhältnissen auf mit einer alleinerziehenden und als Reinigungskraft arbeitenden Mutter. Sie hat sich in der männlich geprägten Hierarchie des diplomatischen Corps hochgearbeitet, als Aufsteigerin begleitet sie die Angst vor dem Verlust ihres Status. Daneben belasten sie immer wiederkehrende, traumatische Erinnerungen an einen vorher stattgefundenen Aufenthalt in einem Kriegsgebiet.

Während im exotischen Montevideo das Wetter gut ist und sich alles um die Ausrichtung der Feier dreht, geschieht ein Mord. Die Hauptfigur erhält eine bedrohliche Gegenspielerin – eine einflussreiche Besitzerin eines Zeitungsimperiums und Mutter einer verschwundenen Tochter. Mehr soll hier nicht verraten werden, denn nach den dann doch turbulenten Ereignissen in Südamerika, setzt die Handlung zwei Jahre später wieder ein, in Istanbul. Ganz im Gegensatz zum vermeintlich friedlichen Uruguay stellen sich in der Türkei sofort brisante politische Themen, als der Botschafterin bewusst wird, dass deutsche Behörden Amtshilfe leisten, um deutsche Staatsangehörige an die türkische Justiz auszuliefern.

Eine erfolgreiche öffentliche Person des kulturellen Lebens, eine Figur, die ohne Zweifel die tatsächliche Geschichte der Mesale Tolu erzählt, steht dabei im Mittelpunkt. Im Roman ist sie gemeinsam mit ihrem Sohn wegen vermeintlichem Hochverrat in der Türkei inhaftiert, auch unter Mitwirkung deutscher Stellen. Die Diplomatin gerät in einen Loyalitätskonflikt und entschließt sich unter hohem persönlichen und daher auch individuellem Einsatz zu handeln. Das Bild der vermittelnden und kompromissbereiten Diplomatin bedient die Hauptfigur nicht mehr, aber schon das Stereotyp der empathischen Frau, die jedoch aktiv eingreift.

Wie sehr die eigene Geschichte der Diplomatin Parallelen zu Flucht und Staatsterror aufweist, enthüllt ein letzter kurzer Teil, der in Hamburg eine Begegnung zwischen der Hauptfigur und ihrer Mutter erzählt, inklusive dem metaphorischen und symbolträchtig verbindenden Erzählmotiv einer wehenden deutschen Flagge.

Ein definitiv spannendes und gut recherchiertes Buch über Moral und ihre Grenzen. Die Konfliktlinien werden in präziser Sprache differenziert herausgearbeitet bei einer dann doch eindeutigen Parteilichkeit. Das Cover lässt sich nur entziffern, nachdem frau das Buch gelesen hat: es handelt sich um die Schlüsselszene. Viel Spaß beim Lesen!

Lucy Fricke: Die Diplomatin, Claassen 2022, 254 S., 22 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Fri 6/2

Ele Grimm

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