Lesetipp: Lea Draeger, „Wenn ich euch verraten könnte“

Draeger zeichnet sich durch viele Talente in ganz unterschiedlichen Genres aus, sie ist ausgebildete Schauspielerin und war als Malerin von Papst- und Päpstinnen-Bildern ausgesprochen erfolgreich. Die 1980 in Münster geborene Autorin lässt in ihrem ersten Roman ein Stück Familienbiografie ihrer tschechischen Vorfahren einfließen: „Es ist Fiktion, aber trotzdem ist alles echt.“ „Wenn ich euch verraten könnte“ ist das Tagebuch-Projekt einer 13-jährigen Ich-Erzählerin, die sich den transgenerationalen Familiengeheimnissen über zwei Sprach- und Glaubensräume hinweg Stück für Stück annähert. Sie wird nicht die einzige Frau im Buch sein, die anfängt zu sprechen. Trotz aller Verletzungen ist die Linie von Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter auch geprägt von Widerständigkeit und Willenskraft.

Rahmenhandlung bis zum Ende bilden die Berichte und Reflexionen des Mädchen-Ichs aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie der 1990er Jahre, in die assoziativ Erinnerungen eingebettet sind an die sich über die Jahre immer wieder verändernden familiären Konstellationen. Patriarchale Gewalt und katholische Motive nehmen großen Einfluss auf die Geschehnisse, Draeger geht es jedoch nicht um eine Abrechnung, sondern sie verfolgt auch als Autorin das Ziel ihrer Erzählerin, das Schweigen zu brechen, „dafür muss ich Worte benutzen“.

Die Diagnose Anorexie für das Mädchen ist eigentlich falsch, denn genau genommen hat sie einfach aufgehört zu essen, nach dem Tod ihrer Großmutter, es handelt sich hier um eine körperliche Totalverweigerung. Gegenüber den behandelnden Menschen in der Klinik gibt sie vor, in einem Heft mit Kuli zu zeichnen, schreibt jedoch heimlich die Geschichte ihrer Familie auf.

Die beschriebenen Szenen aus der Gegenwart und der Vergangenheit sind keine leichte Kost, so beginnt der Roman mit folgenden Worten: „Als mein Großvater zwölf Jahre alt war, erhängte sich mein Urgroßvater am Deckenbalken seiner Backstube mit einer Hundeleine. Die Füße schwebten über dem Arbeitstisch. Er schaute starr von oben hinunter auf sein Kind.“

Und er endet versöhnlich mit dem Suchen nach der eigenen Geschichte, nicht nach Status oder Identität, wie heute so oft leider noch üblich.

„Meine Großmutter hat es nicht mehr erlebt, dass meine Familie es in dem neuen Land geschafft hat und angekommen ist. Dass wir jemand geworden sind […] Die Sprache meiner Mutter habe ich nie gelernt. Immer wenn ich sie irgendwo höre, möchte ich stehen bleiben und gehe dann schnell weiter […] Die Wahrheit ist, dass ich in diesem Land und in diesem Körper eine versteckte Fremde bin. Und dass ich irgendwo dazwischen verloren ging […] Ich werde sie finden, meine Geschichte. Auch wenn ich uns verraten muss.“ (S. 287f.)

Während das Cover eine verschwommene mittelalterliche Frauendarstellung zeigt, auf die lange Tradition einer ausdruckslosen, anpassungsfähigen Frauenrolle verweisend, stellt der letzte Satz eine Verbindung zum mehrdeutigen Titel des Buches her, so erhält die Protagonistin am Ende eine Kontur, die uneindeutig verbleiben darf. Eine nicht leichtfüßige Lektüre, die sich jedoch lohnt in einer einfachen Sprache zu komplexen Verhältnissen.

Lea Draeger: Wenn ich euch verraten könnte, hanserblau 2022, 287 S., 23 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Dra 4/1

Ele Grimm

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