Lesetipp: Annie Ernaux, „Das Ereignis“

Ernaux, geb. 1940, ist eine häufig ausgezeichnete und populäre Literatin in Frankreich mit unzähligen Veröffentlichungen seit 1974. Auf ihr 1997 geschriebenes, aber erst 2020 auf Deutsch übersetztes Buch „Scham“ beziehen sich aktuell auch junge deutsche Autorinnen, wie Laura Späth in „about shame“. Die Aktualität ihrer Themen und ihrer intensiven Innenschau bleiben zeitlos, diese Herangehensweise beschreibt Ernaux in Scham folgendermaßen:

„Um meine damalige (sc. 1952) Lebenswirklichkeit zu erreichen, gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, ich muss mir die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, Provinz, in denen ich gefangen war und die, ohne dass ich mir ihrer Widersprüche bewusst gewesen wäre, mein Leben beherrschten. Die verschiedenen Sprachen zutage bringen, die mich ausmachten, die Worte der Religion, die Worte meiner Eltern, die an Gesten und Gegenstände geknüpft waren, die Worte der Fortsetzungsromane, die ich in Zeitschriften las […]. Mich dieser Worte bedienen, von denen manche noch immer mit der damaligen Schwere auf mir lasten, um den Text der Welt, in der ich zwölf Jahre alt war und glaubte, wahnsinnig zu werden, anhand der Szene eines Junisonntags zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen.“

Der eigentliche Skandal von „Das Ereignis“ besteht jedoch nicht in der radikalen persönlichen wie zeitgeschichtlichen Perspektive, manchmal als banal abgewertet von der Kritik, sondern darin, dass die Handlung im Jahr 1963 angesiedelt ist. Im Jahr 1999 unter dem Eindruck der AIDS-Pandemie entschied sich Ernaux, ihre Geschichte einer illegalen Abreibung zu verschriftlichen. Heute ist ihr Thema in vielen Ländern der Erde immer noch oder wieder aktuell in seiner unglaublichen Einschränkung von weiblicher Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung.

Beim Filmfestival von Venedig erhielt der Film zum Buch 2022 unter der Regie von Audrey Diwan den Goldenen Löwen, mutig oder selbstverständlich in einer Welt, in der die Unterdrückung von Frauen qua Geschlecht nicht weniger wird, aber angeprangert werden sollte.

Die Literaturstudentin Anne, als erste in ihrer Familie mit Abitur überhaupt, ist ungewollt schwanger. Abtreibungen sind in den 1960er Jahren in Frankreich illegal, sie riskiert also eine Gefängnisstrafe oder ihr Leben, falls der heimliche Eingriff schiefläuft. Ihre Verzweiflung misst die spätere Autorin an dem Verlust an Interesse für den Rest der Welt, so die Ermordung Kennedys. Freunde und Freundinnen sind ebenso wenig hilfreich wie Ärzte, so greift Anne zunächst zur Selbsthilfe, bis sie eine Engelmacherin in der Impasse (Sackgasse) Cardinet aufsucht, deren Adresse dann doch Passage lautet.

„Heute dasselbe zu empfinden wie damals, ist unmöglich. Nur indem ich mir in einer Schlange im Supermarkt oder auf der Post irgendeine grob und unsympathisch wirkende Frau um die sechzig heraussuche und mit vorstelle, sie würde mir mit einem fremdartigen Instrument in der Scheide herumstochern, kann ich mich flüchtig dem Zustand annähern, in dem ich mich damals eine Woche lang befand.“ (S. 66f.)

Der Stil der immer wieder explizit von der Autorin reflektierten Erinnerungsarbeit kommt eher trocken und minimalistisch daher, Gefühle müssen die Leser:innen mitbringen, um sich mit dem Inneren der Autorin zu verbinden.

Am Ende resümiert Ernaux folgerichtig: „Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte.“ (S. 101)

Ein intensives Leseereignis.

Annie Ernaux: Das Ereignis, Suhrkamp 2021, 101 S., 18 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Ern 1/2

Ele Grimm

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