Lesetipp: Dominique Fortier, „Städte aus Papier“

Das sechste Buch der 1972 geborenen und anerkannten franko-kanadischen Schriftstellerin Fortier ist eine poetische Annäherung an das Leben von Emily Dickinson. Dickinson gilt als größte Lyrikerin der USA, obwohl zu ihren Lebzeiten keine Zeile veröffentlicht wurde: So riet der Verleger Thomas Wentworth Higginson ihr davon ab und nach ihrem Tod verbrannte ihre Schwester Lavinia auf Anweisung von Emily die ihr hinterlassenen Schriftstücke.

Emily Dickinson wurde 1830 geboren und starb 1886, sie hat fast ihr gesamtes Leben im Haus ihrer Familie gelebt. Trotzdem ist ihr lyrisches Werk von einer enormer Weite geprägt, ihre Vorstellungskraft machte mit Worten ihre kleine und überschaubare Welt zu einer großen auf Papier, wie etwa in ihrem bekanntesten Gedicht:

To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.

Diese immens dichte Atmosphäre der dickinschen, ihrer Zeit weit voraus seienden Lyrik, versucht Fortier auch in ihrer 2018 erschienenen Biographie in knappen Kapiteln ohne Überschrift entstehen zu lassen. Gerne zieht die herkömmliche Rezeption von Emily Dickinson Parallelen mit männlichen Protagonisten herbei, „einen epigrammatischen Walt Whitman“ oder im Geiste George Herberts als „puritanische Metaphysikerin“. Fortier geht da ganz eigene Wege, ähnlich wie Dickinson, die mit den klassischen Formen von Gedichten ihrer Zeit durch zahlreiche Gedankenstriche oder uneindeutigen Aussagen brach.

Von Emily heißt es, während ihr Bruder in Harvard Jura studierte, dass sie wie ihre Mutter einen grünen Daumen geerbt habe und Orchideen zum Blühen bringe. Ihr inzwischen digital zugängliches Herbar beschreibt Fortier wie folgt:

„Auf sechsundsechzig Seiten sind vierhundert vierundzwanzig verschiedene Blumen und Pflanzen angeordnet […] Besonders die gelben Blüten leiden offenbar weniger unter dem Verstreichen der Zeit; die goldgelben haben einen Stich ins Ockerbraun bekommen, die senffarbenen einen rötlichen, und die Margaritenherzen erschafft das Auge instinktiv wieder. Die Blätter sehen aus wie aus Filz, leicht gräulich, als hätten die Jahre sie mit Asche überzogen.“ (S. 31)

Am Ende, im einzigen mit einer Überschrift versehenen Kapitel, heißt es: „Linden ist ein grüner und goldblonder Ort – Honig und Klee“. Hier verlässt Emily, die mit 25 Jahren den Entschluss gefasst hatte, ihr Geburtshaus nie mehr zu verlassen, „ihr Papierhaus […] in einem scharlachroten Kleid“. (beide Zitate S. 187)

Intensive Farben zieren auch das Cover des Buches „Städte aus Papier“, die eben nicht urban im herkömmlichen Sinne, sondern human in ihrer Reflexion des Menschlichen und seiner Träume sind. Bunte Farbspritzer füllen das einzige Fotodokument, das es von Emily Dickinson gibt.

Dominique Fortier: Städte aus Papier, Luchterhand 2022, 187 S., 20 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R For 5/1

Ele Grimm

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