Die koreanische Schriftstellerin Kim Hye-Jin wurde 1983 in Daegu geboren, ihr sechstes im Original bereits 2017 erschienen, wurde als erstes Buch von ihr ins Deutsche übersetzt. Sie gehört selbst zur queeren Szene von Seoul, ihr dicht gewebtes Werk über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung ist jedoch ausschließlich aus der monologisierenden Ich-Perspektive der Mutter erzählt.
Die verwitwete Mutter arbeitet als Altenpflegerin in einem privaten Heim und lebt trotz Vermietung von Wohnungen in ihrem Haus am Existenzminimum. Das verbindet sie mit ihrer Tochter, die sich „Green“ nennt. Obwohl diese die hohen Bildungserwartungen ihrer Eltern erfüllt, kann sie als prekär angestellte Dozentin an der Universität ihre Miete nicht mehr bezahlen. Als aus der Not geborene Gemeinschaft entsteht eine WG aus Mutter, Tochter und deren Partnerin. Verhaftet mit den Werten der älteren Generation, kann die Mutter eine lesbische Beziehung eigentlich nicht dulden, sich nicht einmal mit der Realität dieser vertrauten und sexuellen Verbindung stellen. Während der gesamten Erzählung bleibt die Lebenspartnerin trotz aller gemeinsamen Erlebnisse und einem geteilten Alltag das namenlose „Mädchen“ für die Mutter.
Während die Mutter sich nicht traut, Missstände in ihrem Altenheim zu veröffentlichen oder dagegen anzugehen, demonstriert die Tochter sichtbar, dass sie eine Frau liebt und engagiert sich lautstark gegen die gesellschaftliche Diskriminierung von Homosexuellen. So gerät die Mutter in eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen einer anonym bleibenden Gruppe von Aktivist:innen mit erbitterten Gegner:innen einer offeneren Gesellschaft.
Sorgen um die tatsächlich verletzte Tochter wechseln sich ab mit Selbstvorwürfen, etwas falsch gemacht zu haben. Sie ringt um eine eigene Haltung in einem konfuzianisch und patriarchalisch geprägten Korea, einer Gesellschaft, die keine Toleranz gegenüber Homosexualität zulassen will.
Eine sprachlose Barriere zwischen Mutter und Tochter prägte die Beziehung schon vor dem Einzug der Partnerin, die Fürsorge und Zugewandtheit als persönliche Merkmale in die Wohngemeinschaft mitbringt und mit der Mutter mehr spricht als die eigene Tochter. Konventionen behindern auch körperliche Annäherung, so betrachtet die Mutter einmal heimlich und ein wenig neidisch, wie die beiden Frauen eng umschlungen schlafen. Ein Bild das sie auf der anderen Seite fürchtete, obwohl es in ihrem Kopf herum spukte. Dem äußeren Schweigen steht ein umso beredteres von Widersprüchen geprägtes Inneres gegenüber, angesiedelt im weiten Feld zwischen Liebe und Konvention.
Doch die töchterliche Widerständigkeit färbt auch auf die Mutter ab, die die von ihr gepflegte alte Frau Tsen kurzerhand aus einem schlechten Pflegeheim entführt. Tsen hat keine Angehörigen, war ihr Leben lang selbstständig und handelte human. Diese Lebensleistung nützt ihr jedoch nichts in einer auf Profit ausgerichteten Massenabfertigung von alten Menschen. Eine kurze Vision von einer genießenden friedvollen Gemeinschaft bleibt Wunschtraum, es gibt kein Happy End. Doch es entsteht so etwas wie eine neue Familie für die Mutter, neben der Tochter erweitert um deren Partnerin, Freund:innen der beiden und zwei Arbeitskolleginnen, die ganz traditionell die Beerdigung von der großmütterlichen Tsen begehen, wodurch „doch noch so etwas wie Wärme entsteht“. (S. 167)
Das Cover des Buches zeigt eine abgewandte junge weibliche Figur, deren Gesicht nicht erkennbar ist, die ihre Hände ein wenig unentschieden ringt, ganz in grau-braunen Tönen gehalten wie eine alte Fotografie. Die Sparsamkeit bei aller differenzierten und kontrastreichen Darstellung spiegelt exakt die Essenz dieses außergewöhnlichen Buches. Die Verbindung von Innerem und Äußeren, Tradition und Widerstand, Privatem und Öffentlichem, Individuum und Gesellschaft wird permanent hergestellt und wieder infrage gestellt, ohne eindeutige Setzungen vorzunehmen, es sei denn gegen Gewalt auf der Straße oder im Altenheim.
Das privat scheinende Setting eines nicht nur biologisch definierten Familienromans mit ausschließlich weiblichem Personal aus drei Generationen ist damit nicht nur ein Spiegel der koreanischen Gesellschaft, sondern beleuchtet so ganz und gar nicht besserwisserisch aktuelle wie große philosophischen Fragen.
„Wie wird die Welt aussehen, die meine Tochter im Gegensatz zu mir noch erleben wird? Wird es eine bessere sein? Oder wird die Welt zugrunde gehen?“ (S. 20)
Ein Buch, das zum wiederholten Lesen einlädt mit seinem besonderen Stil, mit seiner Nähe in der Distanz. Es finden sich immer wieder neue spannende Stellen beim erneuten Lesen.
Kim Hye-Jin: Die Tochter, Hanser Berlin 2022, 172 S., 18 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Kim 3/1
Ele Grimm