Selten hat mich in letzter Zeit ein Buch so berührt mit seiner Klugheit und Emotionalität wie „Sag mir nicht, wer ich bin“, denn es geht ein großes Thema unserer Zeit an, unprätentiös, persönlich und immer selbstkritisch auf der Suche bleibend.
Julia Wadhawan arbeitet als Reporterin und Redakteurin u.a. für die ZEIT und kam 1987 als Tochter eines in Indien geborenen Vaters in einem Dorf in Nordrhein-Westfalen auf die Welt. Zitate von ihm, der sich als Weltenbürger versteht, sind einigen Kapiteln vorangestellt, ihm gilt auch der titelgebende Satz. Auch wenn der Vater findet, dass „alle identisch“ seien (S.23), so sitzt doch seine Tochter überall zwischen den Stühlen. Sie fühlt sich eng verbunden mit der indischen Familie, weil sie nur Brocken Hindi spricht, betrachtet sie sich jedoch als „falsche Inderin“. In Deutschland erfährt sie trotz einer nonkonformen Hautfarbe wenig Diskriminierung dank ihres Bildungshintergrunds, dennoch wurde sie einmal sehr zur eigenen Verwunderung in der Schule gefragt, ob sie nicht in einen Integrationskurs wolle.
Julia Wadhawan geht 2016 für drei Monate als Medienbotschafterin der Robert Bosch Stiftung nach Indien, um ihre zweite Heimat auch außerhalb des familiären Rahmens zu erkunden und darüber zu berichten. Aus dem ambivalenten Sendungsauftrag, das auch ihr Fremde und doch so Vertraute in die deutsche Gesellschaft zu tragen, „aus Sicht der Menschen vor Ort“, wird ein radikal subjektiver Bericht, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Objektivität. „Sag mir nicht, wer ich bin“ ist kein individuelles Reisetagebuch oder intellektuelle Auseinandersetzung mit schwierigen indischen Themen wie das Kastensystem, sondern beides, gewürzt mit einer Portion Selbstironie.
In zwölf Kapiteln entfaltet sich ein Kaleidoskop von Geschichten, Biographien, Orten und Themen auf der subjektiv motivierten Suche nach Bildern, die mit denen im Inneren der Autorin korrespondieren. Die Auseinandersetzung mit den Differenzen zwischen den vertrauten Parametern der deutschen und der indischen Kultur beginnt im Haus der Großeltern in Neu-Delhi. Dieses soll verkauft werden nach deren Tod, ein Abschied von der Kindheit und von einer heilen im besten Sinne naiven Welt, nachdem Schmuck der Autorin aus ihrem Zimmer verschwindet. In den folgenden Kapiteln geht es um Alltag, Erinnerungen aus der kindlichen Perspektive an die zahlreichen Familienmitglieder, von Gesprächen bis hin zum kulturübergreifenden Thema Essen. Danach geht es hoch komplex zur Sache in kontroversen Fragen um Religion, Verschleierung und Gewalt gegen Frauen. Auch hier zeigt sich in einem Buch, das so gar nicht den Feminismus explizit auf seine Fahnen schreibt, dass Frauen den gesellschaftlichen Wandel bestimmen, auch in Indien.
Im letzten Kapitel betont Wadhawan noch einmal die Bedeutung ihrer Reise nach Innen in der fortlaufenden Auseinandersetzung mit dem Außen, angesiedelt zwischen subjektiven und traditionellen Bezügen. Auch oder gerade im pandemischen Lockdown entsteht ein intensives Gemeinschaftsgefühl, eine Entangled History (Shalini Randeria) als Wechselwirkung von Individuen und Kollektiv, als zahlreiche Familienangehörige weltweit das indische Fest Diwali, ein Fest zum Thema Erneuerung, gemeinsam und dennoch jede:r auf ihre und seine Weise feiern. So kann Integration auch funktionieren, ohne Mehrheitsgesellschaft und Leitkultur, mit mehr Diversität und weniger Homogenität – und gerade deswegen mit mehr als mit weniger Konflikten verbunden, und verknüpft mit einer inneren Stabilität.
Eine unterhaltsame und wohltuende Lektüre in Zeiten der vielen erhobenen Zeige- bzw. Mittelfinger, die sich ganz woke auf die Seite der Guten stellen und diese damit definieren, statt umgekehrt, sich der Komplexität zuzuwenden, wie dieses Buch es versucht. Interessanterweise fand ich im Buch von Anne Mustoe aus dem Jahr 2001 über ihre Fahrradreise durch Indien auf den Spuren des Götterpaares Rama und Sita den Hinweis, dass es die indische Kultur locker erlaubt, Historie und Mythos als gleichberechtigt nebeneinander stehenzulassen, ebenso wie der Hinduismus sich als Religion der vielen Götter permanent in einem Erneuerungsprozess befindet. Es könnte also sein, dass Wadhawan in ihrer mehrfachen Identität gerade von ihrem indischen Anteil des nicht-binären Denkens profitiert. Ein weiteres spannendes Thema klingt in „Sag mir nicht, wer ich bin“ an, weshalb ich hoffe, dass die Autorin sich wie nur am Rande von ihr angemerkt, auch noch der innereuropäischen Fluchtgeschichte der Mutter zuwendet, ich bin gespannt.
Julia Wadhawan: Sag mir nicht, wer ich bin. Über die Sehnsucht nach Idetität und die Freiheit, nirgends hineinzupassen, dtv 2022, 238 S., 16 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Acd 92
Ele Grimm