Die Mitte 30jährige, erfahrene Autorin Tlusty ist Journalistin und schreibt u.a. für ZEIT online. Ihr Buch „Süss“ wendet sich gegen einen (neoliberalen) Feminismus als Lifestyle-Projekt, das, statt Bewegung zu sein, zu einem individualisierten Projekt verkommt. Tlusty fordert dagegen eine erneute Politisierung und Kritik an den gesamtgesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen (Klassen-)Verhältnissen. In „Süss“ möchte sie aufzeigen, wie sehr das Patriarchat heute noch Frauen und ihr Leben bestimmt. Ihre Analyse orientiert sich an einem breiten Informationshorizont, gesammelt bei Freundinnen und feministischen Theoretikerinnen, von Google bis Zeitgeschehen. Tlusty generiert aus dieser Gemengelage drei sogenannte Figuren: Sanft, Süß und Zart, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist. Diese Figuren betrachtet die Autorin als strukturelle, historisch gewachsene Narrative, gegen die weder Empowerment noch Eigenverantwortung gewachsen sind.
Das Kapitel „sanft“ steht, wie leicht zu vermuten, für Care Arbeit, bezahlte und unbezahlte, meist von Frauen verrichtet, wie im Mainstream bereits angekommen. Tlusty unternimmt den kühnen Entwurf, einen neuen Arbeitsbegriff zu entwerfen unter Zuhilfenahme von Marx und ihrer eigenen Mutter, mit dem Ergebnis, dass Erwerbs- und Sorgearbeit miteinander verbunden werden sollten – früher gab es da doch so eine Kampagne Lohn für Hausarbeit, oder?
Im Kapitel „süss“ berichten Freundinnen von Grenzverletzungen durch Männer. Tlusty zieht die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin und radikale wie kluge Selbstbeschreiberin Annie Ernaux heran mit ihrem Werk „Das große Gedächtnis der Scham“, um Scheitern weniger schmerzhaft zu machen. Die starken und selbstbestimmten Vertreterinnen des Potenz-Feminismus sind für die Autorin auch keine Lösung, vielmehr bezieht sie sich auf einen Text von Audre Lorde von 1978, um sich von „allen Skripten, die uns sexuell beschränken, zu lösen“ (S. 111). Tlusty plädiert dementsprechend für einen erotischen Möglichkeitsraum, der nicht ausschließlich sexuell konnotiert ist, sondern orientiert an Berührung in jeglichem Sinne, weder Ohnmacht noch Demütigung akzeptierend.
Die dritte Figur „zart“ analysiert diese immer noch in Variationen gängige weibliche Zuschreibung als mögliche strategische Volte. Hier wird Weiblichkeit zur Tarnung und Strategie, so wurde z.B. Beate Zschäpe lange Zeit nur als unschuldige Mitläuferin der NSU und deren zahlreicher rassistisch motivierter Morde gesehen. Daneben betrachtet Tlusty die Zuschreibung zart als immer noch wirksam bei der Verniedlichung und damit Verleugnung von weiblicher Kompetenz beispielsweise von Künstlerinnen oder wird zu einer Frage des Überlebens bei der genderspezifischen Diagnostik von Herzinfarkt. Das Bild der starken Frau bietet ihres Erachtens keinen Ausweg, denn „obwohl diese Frau eine Frau ist, ist sie stark, und diese Zuschreibung gilt zumeist nur für bestimmte Frauen: Stark sind sie nur, wenn sie sich in die männliche Sphäre der Macht begeben – was eben stillschweigend noch immer als außergewöhnlich gilt.“ (S. 154)
In Ihrem persönlichen wie engagierten Epilog möchte Tlusty weibliche Inszenierungen von Lippenstift bis High Heels nicht missen oder einschränken, sondern als „universelle Möglichkeiten aller Geschlechter“ sehen mit der optimistischen Forderung. „Meine Vision einer feministischen Zukunft lautet entsprechend: Dolce Vita für alle.“ (S. 167)
Am Ende der umfangreichen und klugen Analyse hinter einem poppig aufgemachten bunten Cover und trotz der Verkürzung auf drei Figuren, ist frau nicht unbedingt völlig neu orientiert, aber gut unterhalten von einem lesenswerten Buch.
Ann-Christin Tlusty: Süss, Hanser Verlag 2021, 197 S., 18 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Abb 94
Ele Grimm