“Aafarin, mein Kind. Sei ein Löwe.”
Mit diesen Worten ermahnt der Vater seine vierjährige Tochter, als Schlepper die Familie 1993 zusammen mit anderen Flüchtlingen durch einen winterkalten Wald nahe der deutschen Grenze treiben und das frierende, übermüdete Kind in Panik gerät.
Heute ist Waslat Hasrat-Nazimi Journalistin und Leiterin der Dari-/Pashtu-Redaktion der Deutschen Welle. In ihrem Buch Die Löwinnen von Afghanistan verflechtet die Autorin persönliche Erlebnisse und Erfahrungen mit der Geschichte und aktuellen Lage Afghanistans, seinen patriarchalen Strukturen und den Freiheitsbestrebungen der afghanischen Frauen. (Auch was es mit dem “Löwin-Sein” für eine Afghanin auf sich hat, erfahren wir.)
Afghanistans Vielfalt und Hierarchie der Ethnien (die Autorin gehört der paschtunischen Mittelschicht an), die regionalen Unterschiede, das Stadt-Land-Gefälle, die Mischung aus Islam und tribalen Traditionen, machen es Hasrat-Nazimis Ansicht nach unmöglich, über das Afghanistan oder die Afghanin geschweige denn den Islam schlechthin zu sprechen. Ein perfides Kontinuum dagegen bildet die in der afghanischen Kultur fest zementierte Unterdrückung der Frau.
„Laut dem Women, Peace and Security Index 2021/2022 der Georgetown University, welcher die Lage von Frauen hinsichtlich der Faktoren Sicherheit, Gerechtigkeit und Teilhabe weltweit einstuft, ist Afghanistan das unsicherste Land der Welt für Frauen und belegt im Ranking den letzten Platz – noch nach Jemen und Syrien.“ (S. 47)
Hasrat-Nazimi untersucht sowohl die Rechtfertigungslogik als auch die Widersprüchlichkeiten und Notlösungen einer unver(br/sch)ämt misogynen Gesellschaft. Was die systemische Herabwürdigung für die einzelne Frau bedeutet, vermittelt die Autorin unter anderem anhand der Erfahrungen ihrer Schwester, ihrer Mutter und ihrer Großmutter.
Aber auch die Umstände, Auswirkungen und Folgen des Nato-Einsatzes werden behandelt. Und dem westlichen Narrativ, dass es Bemühungen um Frauenrechte in Afghanistan erst seit 2001 gibt, setzt die Autorin eine Reihe berühmter Frauen und verschiedener Reformansätze aus der afghanischen Geschichte entgegen. Auch die zahlreichen afghanischen Frauenrechtlerinnen, die dem Taliban Regime weiterhin mit bewundernswertem Mut entgegentreten, scheinen mehr an diese internen Ansätze anzuknüpfen als an einen ideellen Exportartikel des Westens.
Im letzten Kapitel stimmen eine Neun-Punkte-Liste (S. 290/91) und das Zitat der Dichterin und Frauenrechtlerin Farah Mustafawi die Leserin etwas zuversichtlicher über mögliche Hilfsstrategien von außen.
„Was wir wollen, ist dass man unsere Stimmen in die Welt hinausträgt – vor allem auf internationale Plattformen wie auf UN-Konferenzen oder im Europäischen Parlament. Für diese moralische Unterstützung sind wir dankbar und offen.“ (S. 286)
Hasrat-Nazimis Die Löwinnen von Afghanistan ist ein umfassend informativer, nüchtern-aufrührender Beitrag zum Verständnis des Landes, seiner Frauen und beider verzweifelten Lage. Ein Lese-Muss für jede, die sich genauer über die Hintergründe und Zusammenhänge der Unterdrückung und des Freiheitskampfes der afghanischen Frauen informieren möchte.
Die Autorin schließt mit einem Apell zur stärkeren Solidarität mit und unter den „Löwinnen“.
Waslat Hasrat-Nazimi: Die Löwinnen von Afghanistan. Der lange Kampf um Selbstbestimmung, Rowohlt 2022, 320 S., 18 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Keb 12
Margret