Zwei sehr unterschiedliche Romane haben mir deutlich gemacht, dass Flucht zwei Richtungen haben kann. Die eine bewegt sich aus Not und unter großer Gefahr fort von der Heimat hin zu neuen kulturellen Vorgaben, die andere führt hin zu einer Heimat der Kindheit, die es zu verteidigen gilt. Damit ist schon viel verraten zu den beiden Büchern, die sich mit der Situation in Syrien im Krieg und auch davor aus der Sicht von zwei jungen Frauen auseinandersetzen.
Samala heißt die 18-jährige Protagonistin bei Zoulfa Katouh, eine syrisch-stämmige Kanadierin, die wie ihre Hauptperson Pharmazie studierte. Die Figur Salama bedient ebenso wie der Rest des Personals recht klischeehaft Rollenvorstellungen. Sie ist die aufopferungsvolle junge Frau, die sich schwer tut, ihre vom Krieg zerrüttete Heimat Homs, eine der letzten Enklaven von Rebellen, zu verlassen und damit auch das am Ende zerbombte Krankenhaus, in dem sie unter schwierigsten Bedingungen Leben rettet. Ich konnte mich mit der einfachen, oft pathetischen Sprache des Debütromans mit ausgiebigen Dialogen erst anfreunden nach der Information, dass er im englischen Original als Jugendbuch eingeordnet wird.
Im Nachwort benennt Zoufa Jane Austen als ihr Vorbild für die in ihrem Roman zentrale Liebesgeschichte, die die Autorin jedoch als „light“ bezeichnet, eine Bezeichnung die ich nicht teilen kann angesichts der Bedeutung für die Protagonistin und den Plot. Die Parallele zu Austens Romanen hingegen lässt tief blicken in die bewussten oder unbewussten Motive ihres Schreibens. Im Mittelpunkt der Handlung bei Austen stehen immer junge Damen aus dem gehobenen, aber ländlichen englischen Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts, die sich nach verschiedenen Hindernissen und damit verknüpften Lernprozessen endlich selbst erkennen, um entsprechend der gesellschaftlich vorgegebenen Pflicht zu heiraten, das Beste daraus machen.
Die Autorin lebt in Kanada und nimmt sich einige Freiheiten heraus, was die zeitliche Einordnung historischer Ereignisse anbelangt. Die Frage nach Authentizität stellt sich durchaus darüber hinaus, definitiv handelt es sich bei dem Roman um Fiktion, die auch die schwierige Verarbeitung traumatischer Erlebnisse den Leser:innen nahe zu bringen versucht.
Der Originaltitel „As Long as the Lemon Tree Grow“ bezieht sich auf ein dem Buch vorangestellten und dieses auch abschließende Gedicht von Nizar Qabani und versprachlicht die Hoffnung in einer hoffnungslos erscheinenden Zeit: „Jeder Zitronenbaum bekommt ein Kind, und die Zitronen werden niemals sterben.“ Das Cover bebildert sehr gelungen die Handlung: in einer abstrakten Landschaft in Grau- und Orangetönen schreitet ein (Hetero-)Paar mit langen Schatten hinter sich einem Horizont entgegen, der ein zartes Blau durchschimmern lässt, dekoriert von fliegenden weißen Vögeln der Freiheit?
Ein weiter Horizont hinter einer unwirtlichen, bergigen und kargen Landschaft in verschiedenen Lilatönen, dominiert auch das Cover von „Die Sommer“, doch Ronya Othmann hat deutlich mehr erzählerische Möglichkeiten und Ansprüche als Katouh. Othmann erhielt bei dem Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis mit einem (schockierenden) Text über das IS-Massaker an kurdischen Jesiden in Syrien im August 2014. Die Autorin, als Tochter einer Deutschen und eines Kurden mit jesidischem Hintergrund 1993 in München geboren, setzt sich in ihrem Roman differenziert und informativ erforschend mit der Kultur ihres Vaters, seiner Biographie und die seiner Familie auseinander. Den Mittelpunkt der kindlichen Welt ihrer Sommerferien in Syrien bildet die Großmutter und die klaren traditionellen Strukturen eines aus westeuropäischer Perspektive sehr einfachen Lebens, das die Autorin atmosphärisch dicht in einer am Geschehen orientierten Sprache vermittelt. Während ihr Vater jede Religion als Hemmnis für Fortschritt betrachtet und auf den arabischen Frühling 2011 große Hoffnungen setzt, setzt sich die dann studierende Leyla sowohl mit ihrer jesidischen als auch mit ihrer sexuellen, sprich einer nicht hetero-normativen Identität auseinander. Schon vor dem Krieg Assads gegen seine Landsleute erfährt der Vater als Jeside eine Verfolgung durch die muslimische Bürokratie, was ihn zur Flucht und zu einer langen Geschichte von Repressionen als Flüchtling in der BRD führt. Die Großmutter kann unter großen Mühen zwar vor dem IS gerettet werden , kommt aber in dem bayrischen Dorf nie wirklich an. Othmann gelingt es meines Erachtens die verschiedenen Handlungsstränge gut miteinander zu verknüpfen, das kindliche Eintauchen in eine fremde Welt wird mehr und mehr überlagert vom Wissen um Verfolgung und Lebenskampf auch bei der Leser:in, eng verknüpft mit dem Ende einer allseits schützenden Naivität.
Nicht die Frage nach Authentizität, Zeugenschaft und Fiktionalität steht daher im Mittelpunkt einer möglichen Rezeption, sondern ein emotionaler wie rationaler Erkenntnisgewinn, insbesondere aus einer weiblichen Perspektive, den ohne Zweifel beide Bücher auf ihre Art ermöglichen.
Zoulfa Katouh: All die Farben, die ich dir versprach, Dressler 2022, 386 Seiten; 22 Euro.
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Kat 2/1
Ronya Othmann: Die Sommer, dtv 2022, 285 Seiten; 12 Euro.
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Oth 1/1
Gabriele Grimm