Lesetipps: „Feministische und queere Theorie im philosophischen Mainstream“

Im Herbst 2023 ist auffällig, dass explizit feministisch und queer geprägte philosophische Schriften offenbar im akademischen Mainstream angekommen sind, sowohl was die Verlage als auch die Rezensionen in den führenden intellektuellen deutschen Zeitungen anbelangt. Interpretieren ließe sich das entweder als eine weitergehende gesellschaftliche Verankerung und Akzeptanz, zumal alle drei der im Folgenden besprochenen Bücher durchaus eine praktische Relevanz verfolgen, oder als Schritt in Richtung Marginalisierung in einem eher überschaubaren akademischen Feld. Die Zukunft wird es zeigen.

Epistemische Ungerechtigkeit

Fricker, geb. 1966 ist eine bekannte britische Philosophin, die in New York und Sheffield Moralphilosophie lehrt. Ausgehend von einer Moral, die auf Fakten basiert und insofern als epistemisch zu bezeichnen ist als sie nicht auf Machtmechanismen oder Überzeugung bauen sollte, sondern auf Wissen. Umgekehrt stellt sich Fricker die Frage, ob Wissen wirklich als objektiv zu betrachten ist, wo Vorurteile und Ungerechtigkeiten Wissen beeinflussen. Diese von ihr explizit als genuin feministische Fragestellung an die Philosophie eingeordnete Denkweise, nimmt das handelnde Subjekt in den Blick, das epistemische Praktiken ausführt, aber auch als Objekt von deren Auswirkungen betroffen ist.

Fricker arbeitet auf dieser Grundlage zwei Ausschlussmechanismen heraus. Die hermeneutische Ungerechtigkeit deutet auf Lücken im sozialen Prozess der Aneignung und Weitergabe von Wissen und Informationen hin. Ein Beispiel ist der Begriff sexuelle Belästigung, existiert dieser nicht in einer Kultur, können auch keine Beschwerden darüber artikuliert werden. Das führt im nächsten Schritt zu einer Zeugnisungerechtigkeit bei den Quellen der Erkenntnistheorie, benachteiligte Gruppen und Betroffene werden dabei ausgegrenzt. Es gilt immer zu hinterfragen, wem wird geglaubt und wem wird zugehört, wer oder was entscheidet darüber, welche Inhalte Eingang in den kulturellen Kanon erhalten. Vorurteile und Machtstrukturen beeinflussen, ob Sprechende weniger zählen als andere oder ihnen nicht geglaubt wird.

Obwohl bereits im letzten Jahrhundert marginalisierte Strukturen benannt wurden in feministischen, antirassistischen und postkolonialen Zusammenhängen, fand die philosophische Analyse Frickers, im Original bereits 2007 erschienen, eine breite Aufnahme in den Kanon der Erkenntnistheorie.

Fricker setzt der Ungerechtigkeit eine Gerechtigkeit entgegen, angesiedelt zwischen intellektuellem und ethischem Denken, woraus sich ein fortlaufender Prozess des Hinterfragens von Stereotypen und Machteinflüssen ergibt. Wissen darf keinen Selbstzweck darstellen, sondern sollte immer in einem sozialen und damit gesellschaftspolitischen Kontext stehen. Ein Prozess der fortlaufenden kritischen Befragung von Wissen sollte auf konservative da konservierende, sich selbst bestätigende Mechanismen hinweisen. Trotz einer gewissen dem Genre geschuldeten Theorielastigkeit, gelingt es Fricker mit vielen Beispielen aus dem Alltag das Buch zu einem lesenswerten zu machen, das einen eigenen Zugang mit emanzipatorischer Nützlichkeit herstellt.

Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und Ethik des Wissens, C.H. Beck 2023, 278 S., 34 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Aaf 75

Das Gespräch der Geschlechter

Um emanzipatorische Nützlichkeit geht es wie schon bei Fricker auch bei Manon Garcia in Das Gespräch der Geschlerter. Eine Philosophie der Zustimmung.

Die 1985 in Frankreich geborene Garcia ist heute Professorin für Philosophie in Berlin und zeigt in ihrem Buch die rechtlichen wie praktischen Probleme von „Zustimmung“ auf.

Dieser Titel findet nicht immer Zustimmung bei den Rezensent:innen, die sprachkritisch anmerken, dass consentement im Französischen eine komplexere Bedeutung hat als im Deutschen, auch das englische consent meint eher Einwilligung als Zustimmung, die als ein passiver Akt in einem patriarchalen System begriffen werden kann.

Wie Fricker beginnt auch Garcia mit einer ameliorative Begriffsbestimmung, das heißt Zustimmung analytisch abzuklopfen auf inhärente normative Motive und einen möglichen emanzipatorischen Nutzen. Differenziert zeigt Garcia als erstes auf, dass Zustimmung zu einem legal damit abgesicherten einvernehmlichen Sex, sehr viel schwieriger ist als gedacht. Es gibt viele Gründe insbesondere für Frauen* in einem heterosexuellen setting, ja zu sagen, ohne es wirklich zu meinen. Seitdem die psychoanalytische Theorie die Bedeutung der Sexualität von Handlung bis Phantasie in ihren Mittelpunkt stellte, ist Sexualität politisch und soll befreit werden, konstatiert Garcia. Foucault vertiefte dann die engmaschige Verbindung zwischen Sexualität und Macht, die als eine immer noch patriarchal geprägte benannt werden muss. Zustimmung lässt sich also nicht formalisieren und sollte nach Garcia als eher unzulängliches juristisches Kriterium getrennt werden von einer notwendigen und praktischen Moralphilosophie. Garcia entwirft vor diesem Hintergrund eine Vorstellung von „Sex als Gespräch“, das Zwischentönen Raum gibt, statt Werte wie gut und schlecht oder gar einen Leistungsgedanken zu verfolgen. Diese auch non-verbal zu verstehende Kommunikation soll helfen, Sexualität „gleichberechtigter“ und damit auch besser zu machen. Für mich ist dieser Ansatz zu verkürzend gerade nach der differenzierten Problemanalyse ein wenig zu idealistisch.

Manon Garcia: Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung, Suhrkamp 2023, 332 S., 30 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Iab 99

Queer Studies

Mike Laufenberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Jena und Ben Trott, Gastprofessor in Lüneburg haben ein beeindruckendes Kompendium zusammengestellt, was im vertrauten Suhrkamp Format eng bedruckt und profund, gerne im Bücherregal steht, ohne jemals gelesen zu werden. Auf hundert Seiten fassen die Herausgeber die inzwischen über 30jährige Geschichte der Queer Studies zusammen mit einer Menge name dropping, jedoch ohne den spannenden Aspekten des Themas geschlechtlicher und sexueller Normierung gerecht werden zu können. Ihr Bemühen alle Strömungen zu erfassen und zu differenzieren, wie etwa Queer Studies als Kulturkritik oder Ökonomiekritik, macht das Buch zu einem Fundus für akademische Abschlussarbeiten mit gezielter Fragestellung. Die der Einleitung folgenden insgesamt 12 Beiträge, hälftig aufgeteilt in binär adressierter Autor:innenschaft, repräsentieren laut Klappentext „wegweisende queere Analysen zu Kapitalismus, Migration, Geopolitik, Behinderung, Aktivismus, Kultur und Subkultur“. Rezensent Daub in der nicht gerade für ihre Fortschrittlichkeit berühmte Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung merkt meines Erachtens zu Recht am 16.09.23 an, dass „Nur wenn die konzeptuellen Konsequenzen aus einer nicht-heteronormativen Orientierung gezogen werden, stellt diese wirklich eine Herausforderung für etablierte Macht- und Denkstrukturen dar.“

Mike Laufenberg / Ben Trott (Hgg.): Queer Studies, Suhrkamp 2023, 576 S., 28 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Aak 27

Gabriele Grimm

Alle rezensierten Bücher im Überlbick:

Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und Ethik des Wissens, C.H. Beck 2023, 278 S., 34 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Aaf 75

Manon Garcia: Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung, Suhrkamp 2023, 332 S., 30 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Iab 99

Mike Laufenberg / Ben Trott (Hgg.): Queer Studies, Suhrkamp 2023, 576 S., 28 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Aak 27

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