Lesetipp: Madeline Miller, „Ich bin Circe“

Circe ist eine unsterbliche Nymphe, sie ist Tochter und Schwester, Hexe und Heilerin, Geliebte und Mutter, Hebamme und Weberin, eine weise Frau und …

Im Original steht der Name der Circe für sich, der deutsche Titel fügt ein „Ich bin“ hinzu. Doch wer ist Circe, die selber ihre bewegte Geschichte erzählt. Sie durchlebt im Roman verschiedene Phasen in einem langen unsterblichen Leben, das immer wieder neue Wendungen nimmt. Die Herausforderungen, denen sich in diesem Falle die Heldin stellt, erfordern neue Bezeichnungen und Bilder von dem eigenen Ich.

Als ungeliebte Tochter bleibt sie in der höfischen Gesellschaft der Titanen sprachlos und im Hintergrund. In ihrer heimlichen Begegnung mit Prometheus, der bestraft wird, weil er den Menschen das Feuer brachte und damit die Zivilisation, verbindet sie sich mit einem möglichen Widerstand gegen die göttliche Standesordnung und deren Willkür. Sie wird auf eine einsame Insel verbannt, nachdem sie voller Wut ihre magischen Fähigkeiten erkennt und anwendet, nun eine Hexe oder Pharmakis. Auf Aiaia empfindet Circe eine ungeahnte Freiheit im Gegensatz zu der ihr vertrauten patriarchalen Ordnung, sie erkundet ihre neue Umgebung, sammelt Heilkräuter und findet eine Löwin als Haustier, übergriffige Seefahrer verwandelt sie kurzerhand in Schweine. Andere Mythen sind in den Roman eingewoben, so schaut der Götterbote Hermes vorbei und berichtet von dem neuesten Klatsch und Tratsch oder sucht die Nichte Medea Schutz bei Circe, vom trojanischen Krieg berichtet Odysseus, der mit seinen Männern einen ganzen Winter bleibt. Für die darauffolgenden Ereignisse mit Mutterschaft, Frauenbündnis und Kämpfen mit inneren wie äußeren Monstern finden sich lediglich fragmentarische Vorlagen der „Telegonie“, die der Autorin Miller den Raum verschaffen, ihre Erzählung nach eigenen Vorstellungen abzurunden.

Die klassischen griechischen Sagen des Altertums bilden den westeuropäischen Urgrund von Bildern, wie sich Menschen und Gruppen organisieren und wurden vielfältig aufgegriffen im Laufe der Jahrhunderte. Eine neue patriarchale Ordnung mit ihren Helden wurde so abgebildet in der Erzählung des Orest, der ungeahndet seine Mutter ermorden darf, nachdem diese den Vater aus Rache an der Opferung der gemeinsamen Tochter Iphigenie tötete. Die antike Mythologie liefert damit auch immer wieder Stoff für Herrschaftskritik, eine feministische Variante z.B. wird vertreten in den Romanen „Oreo“ von Fran Ross oder „Kassandra“ von Christa Wolf.

Die Altphilologin Miller legt mit Circe ihren zweiten Roman aus diesem Bereich vor, eng orientiert an den traditionellen Erzählungen der griechischen Schöpfungsmythen, Homers Odysee und den kretischen Sagen. Sie entwickelt neue und aktuelle Perspektiven einer weiblichen Selbstbestimmung, die für sich selber spricht im Kontakt mit archetypischen Gestalten. Durch eine neue Bebilderung der teilweise bekannten Figuren, entsteht aus den vereinzelten Erzählungen ein Netz aus Handlungen und Motiven, die im Gedächtnis haften bleiben. Für Leser:innen, egal ob interessiert an der antiken griechischen Mythologie oder nicht, bietet das Buch eine spannende Lektüre mit viel Platz für Vorstellungen von differenzierter Frauenkraft.

Madeline Miller: Ich bin Circe, Eisele Verlag 2019, 517 S., 24 Euro

Das amerikanische Original erschienen 2018 unter dem Titel „Circe“, übersetzt von Frauke Brodd.

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Mil 1

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Gabriele Grimm

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