Eine Sprache für die Sprachlosigkeit.
Anna Burns wurde 1962 in Belfast geboren und hat ihre Kindheit und Jugend dort verbracht. Sie ist somit Zeitzeugin und Betroffene der als „Troubles“ bekannten Machtkämpfe zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. Man könnte jetzt einen historischen Roman erwarten, eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund dieses Konflikts, doch weit gefehlt. Es steht zwar eine Familie im Mittelpunkt der Geschichte, es gibt immer wieder Bezüge auf historische Ereignisse dieser Zeit, aber Anna Burns Geschichte führt weit darüber hinaus.
Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die es in all diesem Chaos, dieser Atmosphäre der Angst und der Unsicherheit, der ständigen Bedrohung und täglichen Angriffe schafft, sich ihre eigene Welt zu erschaffen. Mittelschwester, so „heißt“ die Erzählerin, lebt mit ihrer Mutter und ihren kleinen Schwestern in einem Arbeiterviertel von Belfast. Der Vater und ein Bruder sind tot, ein anderer Bruder musste untertauchen. Weil hier immer und überall die Gefahr lauert, lauern auch die Menschen. Jede*r beobachtet jede*n und alles, jede auch noch so kleinste Abweichung von der täglichen Routine wird bemerkt, kommentiert, weitergetragen und sorgt für Instabilität im sozialen Umfeld.
So auch die Tatsache, dass eines Tages Milchmann, einer der führenden Untergrundkämpfer, die junge Frau nötigt, in sein Auto zu steigen, um sie nach Hause zu fahren. Mehr passiert nicht. Doch diese kleine Abweichung setzt eine Spirale von Verdächtigungen, Vorwürfen, Mobbing, Eifersuchtsszenen und Angstmache in Bewegung, die nicht mehr aufzuhalten ist und immer weiter ins Abwärts führt. Dabei spielen alle ihr Rollen und sind somit Teil des Dramas, das sich nach und nach entwickelt, bis hin zu seinem tödlichen Ende. Keine*r kann sich dieser Dynamik widersetzen.
Doch unsere junge Frau lehrt uns das Gegenteil. Mit einer Mischung aus Neugierde, Rotzigkeit und Mut überrascht sie alle anderen und sich selbst und sticht damit aus dem Ensemble heraus. Nicht nur, dass sie in jeder freien Minute ihre Nase in ein Buch steckt (was selbstverständlich als sehr verdächtig gilt in der Nachbarschaft), nein, sie besucht auch noch eine Weiterbildung außerhalb ihres Bezirks, verliebt sich in einen jungen Mann, der „nicht standesgemäß“ ist, und beginnt, ihr Leben und die Welt um sich mit neuen kritischen Augen zu betrachten. Ihr Ausbruch aus dieser Welt beginnt zuerst im Verborgenen, nur in ihren Gedanken; mit der Zeit wird sie mutiger und wagt sich aus ihrer Umgebung und „Komfortzone“ heraus. Wie in einer Szene ein Ausflug ans Meer ihren Blick weitet, ihre Gedanken erhellt, ihre Sicht auf die Welt verändert, ist einer der schönsten Momente der Geschichte. Ihr Beharren auf Freiheit und Individualität ist der Kontrapunkt zu einer Welt des Terrors und der Angst.
So bunt die innere Welt der jungen Protagonistin ist, so grau und nichtssagend ist ihr Umfeld. Die meisten ihrer Beziehungen sind geprägt von Misstrauen und vor allem von einer großen Sprachlosigkeit. Die wird auch noch dadurch verdeutlicht, dass die Personen in diesem Buch keine Namen haben. Sie werden ausschließlich über ihre Rolle bzw. Funktion definiert. Neben der Protagonistin Mittelschwester und Milchmann sind das z.B. Große Schwester, Dritter Schwager, Irgendwer McIrgendwas …
Mit welcher Sprache und Virtuosität Anna Burns diese Sprachlosigkeit jedoch beschreibt, sucht ihresgleichen. Nicht umsonst wurde „Milchmann“ 2018 mit dem Man Booker Award ausgezeichnet. Wortgewaltig, in seitenlangen, verschachtelten Sätzen ergießt sich ein Monolog über die Leserin, dem man beim Lesen nur atemlos folgen kann. Als nicht publikumskonform und zu ungewöhnlich wurde das Manuskript von vielen Verlagen abgelehnt. Auch die Leserinnen wird es spalten; es ist ein Buch, das man entweder hasst oder liebt. Es gibt kein Dazwischen.
Ich liebe es.
Anna Burns: Milchmann, Tropen Verlag 2020, 452 S., 25 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Bur 5/1
Martina Druckenthaner