Lesetipp: Mirna Funk, „Zwischen du und ich“

Triggerwarnung: (Sexuelle) Gewalt

Wie sehr lassen wir die Vergangenheit über unser Heute bestimmen?

Nike, eine in Berlin lebende Deutsch-Jüdin und die weibliche Protagonistin des neuen Romans von Mirna Funk, kennt sich aus mit Zwischenräumen. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zwischen Deutschland und Israel. Zwischen Frau und Mann. Zwischen dem alten Ich und dem neuen Ich.

Das alte Ich lebt in Berlin, hat ein schwieriges Verhältnis zu Mutter und Großmutter, hatte seit Jahren keine Beziehung mehr und kommt auf dem Weg zur Arbeit täglich am Stolperstein für ihre Urgroßmutter vorbei. Ein Projekt mit Israel, das zu platzen droht, eine unverhoffte Begegnung mit ihrem Ex, die sie aus der Bahn wirft, und der Wunsch, mehr über ihre Urgroßmutter zu erfahren, lässt Nike, die sonst immer alles langfristig plant und keinerlei Risiken eingeht, überstürzt die Koffer packen und für einige Zeit nach Tel Aviv ziehen. Dort will sie das Projekt retten, die israelische Staatsbürgerschaft beantragen und in Yad Vashem nach ihrer Urgroßmutter forschen.

Kurz nach ihrer Ankunft trifft sie auf Noam, einen Journalisten bei der Haaretz. Er hat früh seinen Vater verloren, meidet den Kontakt zu seiner Mutter (die nach dem Tod des Vaters die Familie verlassen hat) und lebt zusammen mit seinem Onkel, der ihn großgezogen hat. Von diesem ist Noam, der nur ein kleines Einkommen hat und im Laufe der Geschichte auch noch seinen Job verliert, mit seinen 40 Jahren immer noch finanziell abhängig.

Ohne viel voneinander zu wissen, fühlen sich Nike und Noam von Anfang an stark zueinander hingezogen. Mirna Funk erzählt die Geschichten ihrer Hauptfiguren aus zwei Perspektiven. Nike hat als Ich-Erzählerin die Oberhoheit darüber, wie weit sie sich öffnen will. Das erzeugt beim Lesen ein Gefühl von Nähe und doch auch von Unnahbarkeit. Schnell kommt die Frage auf, was genau ihr wohl widerfahren sei, ob es die familiären Traumata seien, die sie so ängstlich, verunsichert und distanziert sein lassen. Die Kapitel über Noam haben eine auktoriale Erzählerin. Noam hat daher einerlei Kontrolle darüber, wie detailliert über ihn berichtet wird. Somit ist Noam, zumindest für die Leserin, ein offeneres Buch.

Beider (Familien)geschichten werden so gegenübergestellt. Und bei beiden zeigt sich sehr schnell, dass sie Verwundete sind. Die Traumata ihrer Familien, ihre individuellen Erfahrungen mit Gewalt verschiedenster Art und ihr Schweigen darüber bringen die Beziehung an ihre Grenzen. Wie sich die beiden mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen (was hat das Schicksal ihrer Urgroßmutter mit Nikes eigener Geschichte zu tun?), wie sie ihre Panzer aufbrechen (lassen), wie sie eine (gemeinsame) Zukunft planen und wie aus den alten Ichs neue Ichs werden – oder auch nicht: All das beschreibt Mirna Funk wortgewaltig, spannend und emotional. Auf manche mit Informationen über aktuelle Themen überfrachtete Dialoge könnte gerne verzichtet werden. Alles in allem ist dies aber eine Geschichte, von der man unbedingt wissen will, wie sie endet.

Und allen Leser*innen, die starke Frauen*figuren mögen, sei gesagt: Mit den Frauen, mit denen sich Nike in Israel anfreundet, möchten wir alle gerne befreundet sein.

Mirna Funk: Zwischen du und ich, dtv 2021, 304 S., 22 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Fun 2/1

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Martina Druckenthaner

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