Seit dem Literatur-Nobelpreis für Alice Munroe im Jahr 2013 könnte Frau annehmen, dass dieses kompakte Erzählgenre ein spezifisch weibliches sein könnte. Jedenfalls ist auffällig, wie viele Bände mit Kurzgeschichten von Autorinnen des letzten Jahrhunderts heute wieder aufgelegt werden. Aber nun zu den tollen Geschichten von spannenden Autorinnen in chronologischer Reihenfolge:
Emily Carr war eine mutige Frau in vielerlei Hinsicht, die von 1871 bis 1945 in dem Südwesten von Kanada lebte. Zielstrebig und geduldig verfolgte sie ihren Lebenstraum, als Malerin ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, was ihr erst ab 1927 gelang. Ihre Bilder galten als zu modern und zu sehr geprägt von indigenen Elementen, diese sammelte Emily Carr in den 1920er Jahren auf vielen schwierigen Fahrten mit Kajaks, gesteuert von Menschen der First Nation Kanadas, begleitet von ihrem Hund und dem Zeichenbrett zu schwer zugänglichen verlassenen Dörfern. 1941 verfasste sie kurze Geschichten über ihre Begegnungen mit Totempfählen und Menschen getreu ihrem malerischen Motto: „Komm so direkt zum Punkt wie möglich; verwende nie ein großes Wort, wenn ein kleines genügt.“
Unter dem Titel „Klee Wyck, die, die lacht“, so hieß die Autorin bei den von ihr so bezeichneten Indianern, fanden die Geschichten Einlass in den Kanon der kanadischen Literatur. Durch ihren Tod konnte Emily Carr nicht die Zensur verhindern, die alle kritischen Stellen in der für Jahrzehnte gängigen Schullektüre kurzerhand strich. Weiterhin brandaktuell sind die Verbrechen, die das in unseren Augen oft so liberale Kanada an ihrer indigenen Bevölkerung begangen hat. Emily Carr berichtet von der Trauer der Mütter um ihre Kinder, die nicht überleben oder ihnen weg genommen wurden und sie benennt das dünkelhafte und koloniale Verhalten von Missionaren. Erst 2003 erschien eine ungekürzte Ausgabe, die nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Ohne jemals romantisierend oder überhöhend zu werden, schildern die 21 Geschichten mit Titeln wie „Ucuelet“ und „Kitwancool“ Orte die im Begriff sind, wieder vom Urwald überwuchert zu werden. Sie beschreibt in „D`Sonoqua“ ihre Begegnung mit einer furchterregenden Göttin, der „wilden Frau der Wälder“: „… ihr Starren war so viel mächtiger als meines, dass ich meine Augen kaum aus der Umklammerung dieser leeren Augenhöhlen reißen konnte. Die Macht, die ich spürte, lag nicht in dem Ding selbst, sondern in einer ungeheuerlichen Kraft, an die der Schnitzer geglaubt hatte.“
Emily Carr: KLEE WYCK – DIE, DIE LACHT. Reportagen, Verlag Das kulturelle Gedächtnis, 2020, 176 S., 20 Euro
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Zu ihrem 100sten Geburtstag erschienen sämtliche Kurzgeschichten der brasilianischen Autorin Clarice Lispector in zwei Bänden auf Deutsch mit den Titeln „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ und „Aber es wird regnen“. Bereits mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans „Nahe dem wilden Herzen“ 1943 wurde sie mit 23 zu einer berühmten Autorin der modernen brasilianischen Literatur, einzigartig und neu, geprägt von ihrer ungewöhnlichen Erzählperspektive und einem neuen sprachlichen Stil, auch rezipiert in feministischen Literaturseminaren der 1980er Jahre. Lispector ist die zweite Tochter einer jüdischen Einwandererfamilie aus der Ukraine, ihre Eltern sterben früh, offenbar traumatisiert von den Jahren in der damaligen UdSSR. Als Gattin eines Diplomaten lebt Lispector in vielen verschiedenen Städten Europas, nach ihrer Trennung wohnt sie bis zu ihrem frühen Tod 1977 in Rio de Janeiro. Mehr zu ihrer spannenden Lebensgeschichte findet sich in der umfangreichen Biographie aus dem Jahr 2015 von Benjamin Moser, der auch der Herausgeber der hier besprochenen Bände ist. Ihre insgesamt 84 Kurzgeschichten beschäftigen sich allerdings nie mit äußeren Orten, sondern sind geprägt von einer intensiven Innenschau, der Verarbeitung schmerzhafter Erfahrungen, die bis in die Region von körperlicher Erfahrung reicht. Jede Miniatur entwirft eine eigene, oft komplexe Welt, die einzeln für sich steht und auch so m.E. gelesen werden sollte, in kleinen Portionen, mit Muße, immer auf dem Nachttisch bereit liegend. Nicht die biographische Aufarbeitung interessiert Lispector, eher misstraut sie der vermeintlichen Chronologie. In einem der wenigen Interviews sagt sie selbst zu ihren Geschichten: „Entweder sie berühren Menschen oder sie berühren nicht. Ich vermute, die Frage des Verstehens geht nicht über Intelligenz. Sie geht über das Fühlen, darüber, in Kontakt zu kommen. […] Ich schreibe sehr simpel. Ich bausche Dinge nicht auf.“
Clarice Lispector: Aber es wird regnen, Penguin Verlag, 2020, 288 S., 22 Euro
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Susan Sontag lebte von 1933 bis 2004 in New York, mehr zu ihrem glamourösen Leben findet sich in der jüngsten Biographie 2020 ebenfalls verfasst von Benjamin Moser, der den Pulitzer Preis dafür erhielt. Sontag ist berühmt für ihre treffenden bis unverblümten Essays zu politischen Themen, von Krankheit bis Photographie, sie ist nicht bekannt als Autorin von Kurzgeschichten und das meiner Meinung nach zu Recht. Als ausgesprochener Fan von Sontag, war ich von dem Büchlein enttäuscht, lediglich zwei Geschichten fallen aus dem sonst eher langweiligen Rahmen, dem alles sonst so Zupackende von Sontag fehlt. Lediglich die bedrückende Schilderung des Aids-Todes eines Freundes, ohne dass jemals das Wort benannt würde, lässt die orientierungslose Atmosphäre dieser Zeit lebendig werden, durchaus mit Parallelen zu unserer akuten Pandemie. Auch die Schilderung einer Begegnung mit Thomas Mann in dessen kalifornischen Exil als Schülerin ist ein amüsantes Zeitdokument, gerade wegen seiner unverblümt geäußerten Enttäuschung über den Narzissmus eines literarischen Säulenheiligen. „Doch der Mann, der mir gegenüber saß, hatte nur hochtönende Phrasen auf Lager, obwohl er derselbe war, der Thomas Manns Bücher geschrieben hatte. Und ich brachte nur Einfältigkeiten über die Lippen. Wir beide nicht in Bestform.“ (S. 112)
Susan Sontag: Wie wir jetzt leben, Hanser Literaturverlag, 2020, 128 S., 20 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Son
Ele Grimm