Zwei kleine Mädchen, die wussten, was auf der ganzen Welt sonst niemand wusste – wie man keine Fragen stellt. Wie man glaubt, was man glauben muss. In dieser Zurückhaltung lag eine Höflichkeit und auch etwas Großzügiges. Ist deine Mutter auch krank? Nein, sie tanzt nur die ganze Nacht. Achso – und dazu ein verständnisvolles Nicken.
(S. 27)
Vierzig Jahre nach ersten Veröffentlichung liegt nun die deutsche Version der einzigen Erzählung der Nobelpreisträgerin Toni Morrison vor. Sie ist das Experiment, bei einer Erzählung über eine Schwarze und eine weiße Figur den Lesenden keinerlei rassifizierende Codes an die Hand zu geben.
Wir Leser*innen als “Versuchskaninchen” sind mehr oder minder unablässig bemüht, Hinweise auf das „Typische” der Figuren hinsichtlich der Hautfarbe zu finden, um schubladieren zu können. Doch wenn ein Indiz für eine Sachlage spricht, so spricht das nächste für die gegenteilige. Mit dem Ergebnis, dass beide Figuren changieren.
Twyla und Roberta sind zwei von Armut betroffene Mädchen, die sich zum ersten Mal im Alter von acht Jahren in einem Kinderheim begegnen, unzertrennlich werden, sich dann aus den Augen verlieren, später aber einander einige Male über den Weg laufen. Nicht immer freundlich gesinnt.
Doch in der Erzählung gibt es eine Figur, die Küchenhilfe des Kinderheims, Maggie, die noch ohnmächtiger ist, als Twyla und Roberta. Und die Art, in der die beiden mit ihr umgehen oder später umgegangen zu sein glauben, ist Morrisons Erinnerung an uns, wie wir mit den noch Machtloseren, den „Niemanden” dieser Welt umzugehen tendieren – im zweitbesten Falle gedankenlos.
Was zum Teufel war da bloß mit Maggie?
(S. 44)
Das Nachwort von Zadie Smith ist ein gehaltvoller Essay, der uns das Werk Morrisons nahebringt und unter anderem aus einer Rede von Morrison zitiert, in der sie die Struktur der rassistischen Unterdrückung aufschlüsselt, die auch die Struktur des Faschismus ist. (Merkenswert!)
Auch Smith betrachtet Rassismus als eine Art Faschismus, „womöglich die bösartigste und langlebigste” und geht weiter auf die Konsequenzen des Schwarz-Weiß-Denkens ein, dessen Binärität die Komplexität des Lebens nie ganz erfassen kann. Der Essay endet mit den Worten:
Was immer mit Maggie war, wurde ihr von Menschen angetan. Von Menschen wie Twyla und Roberta. Von Menschen wie Ihnen und mir.
(S. 92)
Erzählung und Nachwort sind nicht nur für Morrison- und Smith-Fans ein absoluter Gewinn.
Toni Morrison: Rezitativ. Mit einem Nachwort von Zadie Smith, Rowohlt Verlag 2023, 92 Seiten, 20 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Mor 3/12
Margret