Auf nur 100 Seiten analysiert die gelernte Sozialarbeiterin Alexandra Kauffmann prägnant und klar das politische System der sozialen Arbeit. Sie beginnt bei dem ideologischen Hintergrund einer langen Tradition von mehrfachen Ausschlüssen, angefangen mit der Frage Sojourner Truths: „Bin ich etwa keine Frau?“, mit der sie bereits 1851 auf die Doppelung von Unterdrückung hinwies als Schwarze und als Frau. In den 1970er Jahren wurde diese Kritik von Angela Davis und bell hooks aufgegriffen, welche auf die Verschränkung von rassistischer, sexistischer, heterosexistischer und klassistischer Unterdrückung hinwiesen. Crenshaw schließlich entwickelte das noch heute genutzte Bild der Kreuzung (intersection) mit Verkehr aus vier Richtungen, um das Zusammenwirken von race und gender zu illustrieren. Diskriminierung funktioniert danach als intersektional ineinandergreifende Mechanismen, die sich als hierarchische Machtverhältnisse fortlaufend reproduzieren.
Soziale Arbeit ordnet Kauffmann ein als gesetzlich geregelte und staatlich finanzierte Reintegration von marginalisierten Menschen. Aufgrund der überwiegenden Praxis von Einzelfallhilfe, die folglich individuelle Lösungen propagiert, werden gesellschaftliche und damit auch für viele andere gültige Begrenzungen verschleiert. Soziale Arbeit agiert damit ihrer Meinung nach aus einer „hegemonialen Position“ heraus in einem Sozialstaat, der inhaltliche Schwerpunkte über Finanzierung reguliert. So könnte etwa ein feministisches Kulturprojekt seine Angebote um Mädchen-Arbeit erweitern, weil dafür neue Gelder aus neuen politischen Entscheidungen zur Verfügung stehen, was aber auch zu Konflikten führen kann aufgrund unterschiedlicher Bedürfnislagen innerhalb eines Projekts. Außerdem definiert staatliche Finanzierung, was als unterstützenswerte Problemlagen gilt, der Hierarchisierung folgend werden beispielsweise Drogenarbeit und Betreuung psychisch belasteter Menschen häufig gegeneinander ausgespielt. Angeregt durch die Werke von bell hooks und Paolo Freire (Pädagogik der Unterdrückten 1973) entwirft Kauffmann alternative Ansätze von sozialer Arbeit, die Ressourcen bereitstellt und nach den Bedürfnissen der „Adressat:innen“ fragt. Diese von Kunstreich 2009 als „dialogisierende Sozialwissenschaft“ benannte Herangehensweise, orientiert sich an Zielen wie Empowerment und community organizing (Alinsky 1999). Ein Beispiel wie dies in den USA umgesetzt wurde, findet sich in dem Buch von Alicia Garza, einer Mitbegründerin der Bewegung „black lifes matter“ mit dem Titel „Die Kraft des Handelns, wie wir Bewegungen für das 21. Jahrhundert bilden“.
Sehr detailreich analysiert Kurz mithilfe der dokumentarischen Methode, die implizite wie auch explizite Diskursorganisation in Frauen-Gruppen. Offen angelegte Diskussionen in neun sehr unterschiedlichen Frauen-Gruppen und in einem Expertinnen-Gespräch wurden transkribiert und unter dem Aspekt der intersektionalen Differenzierung untersucht. Die Gruppen bestehen bereits mit unterschiedlichen Ansätzen, von feministisch über muslimisch oder kurdisch bis zu Frauen mit besonderen Fähigkeiten. Der Ansatz, Differenzen in einem kollektiven Miteinander in unterschiedlichen feministischen Milieus zu erforschen ist spannend, das Ergebnis jedoch eher enttäuschend, nicht zuletzt, weil der Text, nomenlastig geschrieben und an akademischen Vorgaben orientiert, sich nur mühsam erschließt.
Der umfangreiche Theorieteil zu Intersektionalität informiert umfassend zu historischen wie aktuellen Debatten, inklusive Forschungen zu der Kategorisierung von Differenzen in feministischen Kontexten. Die umfangreiche Studie aus dem Jahr 2014 in Frankreich und Kanada von Lépinard ergab 4 Typologien im Umgang mit Differenz. Intersektionalität als Thema kann danach entweder anerkannt oder solidarisch miteinander umgesetzt werden. Eine dritte Kategorie besteht in der Haltung, dass Gender-Themen vorrangig sind oder viertens, dass eine individuelle Betroffenheit zwar anerkannt wird, jedoch nicht deren strukturelle Marginalisierung. Kurz fand in ihrer Studie lediglich die gender-first Kategorie in einer Gruppe, die anderen erkannten die Bedeutung von Intersektionalität an. Weitere wissenschaftliche Forschungen, die Kurz referiert, sind einleuchtend, bringen aber keinen neuen Erkenntnisgewinn. So formuliert Cole (2008), dass Bündnisarbeit erst mit der Anerkennung von Differenzen möglich ist oder so fand Schuster (2016) heraus, dass bei Reflexion der intersektionellen Erfahrungen privilegierte weiße Frauen* inklusiv handeln, die marginalisierten Frauen* streben dafür eher nach Exklusion.
Kurz fragt sich des Weiteren, wie Empowerment als Ziel in feministischen Zusammenhängen in den von ihr untersuchten Gruppen umgesetzt wird. Sie selbst bezeichnet den Begriff als etwas abgenutzt, erkennt jedoch an, dass damit bereits in den 1960er Jahren ein Abschied von der herrschenden Top-Down-Ideologie eingeläutet wurde, dennoch bedarf die Umsetzung einer fortgesetzten Präzisierung. Empowerment kann zu einer politischen Mobilisierung beitragen, doch mit welcher Zielsetzung. Empowerment kann auch zur Entpolitisierung von Problemen führen, indem diese individualisiert werden. So z.B. in der body-positivity-Bewegung mit ihrer freundlichen Vorgabe: „Du musst Dich so annehmen, wie Du bist, aber auch nur so weit, wie es gesund ist“. Bedingung für eine progressive Umsetzung bleibt deshalb eine kollektive und freiheitliche wie widerständige Ausrichtung statt neue ausschließende Maßstäbe zu setzten oder Marktlücken zu erschließen. Die Untersuchung von Kurz ergab, dass das Selbstverständnis der Gruppen als Kollektiv zu Empowerment beiträgt. Hingegen besteht weniger Konsens bei der Kategorie Kampf für Frauenrechte, einige Gruppen empfanden diesen Ansatz für sich als ausschließend und nicht förderlich für die Ziele Autonomie und Selbstbestimmung.
Beide Autorinnen äußern sich in ihren Faziten jeweils kritisch bis resignativ darüber, wie Intersektionalität in der Praxis umsetzbar ist. Die wohlmeinende Kategorisierung gerät schnell an ihre Grenzen, wenn es um neue Setzungen und Bewertungen geht, statt um einen praxisnahen Prozess der fortlaufenden Reflexion.
Alexandra Kauffmann: Wirkungsmacht unter dem intersektionalen Ansatz. Was bedeuten subjektive Unterdrückungserfahrungen im Ansatz der Intersektionalität für die Funktion Sozialer Arbeit, Alma Marta 2022, 107 Seiten; 12 Euro.
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Aal 50
Eliane Kurz: Intersektionalität in feministischer Praxis. Differenzkonzepte und ihre Umsetzung in feministischen Gruppen, transcript 2022, 330 Seiten, 39 Euro.
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Aal 49
Fenna Grimm