Die erste Frau
In ihrem umfangreichen Wälzer „Die erste Frau“ erzählt Makumbi, die in Uganda aufwuchs und heute kreatives Schreiben in Manchester lehrt, eine afrikanische Familiengeschichte in den Jahren 1943 bis 1983. Im Zentrum steht die Heldin Kirabo, die ihre Mutter nicht kennt und deshalb gemobbt wird. Ein Mädchen, die sich für eine Hexe hält, da sie sich als nicht zugehörig empfindet. Als Kind wächst sie in ländlicher Umgebung bei den Großeltern auf, zusammen mit vielen anderen Enkeln und Pflegekindern, auf deren Schulbildung der Großvater großen Wert legt. Parallel zu der coming of age story enthüllt sich die komplizierte Beziehungsgeschichte der Großeltern, die sich in der Generation der Eltern von Kirabo wiederholt, was an dieser Stelle nicht weiter gespoilert werden soll. Da ihr Vater mit seiner neuen Familie in der Stadt lebt und gut verdient, kann Kirabo als leistungsbereite Schülerin auf eine Eliteschule für Mädchen gehen. Außerdem entwickelt sich vorsichtig eine Beziehung zu einem vielversprechenden jungen Mann. Soweit ist die Geschichte eine durchaus vertraute, ausgenommen Familienvorstellungen, die den europäischen Rahmen der Kleinfamilie erweitern. Das Thema Fremdheit bzw. eine Tradition der eigenen Kultur transportiert sich in vielen Wörtern aus dem Ugandischen, von denen keine Übersetzung existiert und deren Bedeutung aus dem Kontext erschlossen werden muss. Am Ende findet sich dann eine hilfreiche Liste mit den Namen von 18 Schlüsselfiguren. Der Roman besteht stilistisch hauptsächlich aus Dialogen oder Erzählungen aus der Vergangenheit. Als feministische Themen stehen Abhängigkeit wie Selbstermächtigung der drei verschiedenen Generationen von Frauenfiguren im Zentrum. Berührend die Schlussszene mit den tanzenden Großmüttern, beobachtet von der Enkelin Kirabo. Diese ist nun angekommen in den 1980er Jahren, als erste Frau in der Familie, die nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters das Erbe antritt und die Verantwortung für ihre Halbgeschwister übernimmt. Insgesamt eine spannende Lektüre für Freundinnen von Familiengeschichten, die in einem anderen kulturellen Kontext situiert sind.
Jennifer Nansubuga Makumbi: Die erste Frau, InterKontinental 2022, 527 S., 26 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Mak 2/1
Das Mädchen mit dem Drachen
„Das Mädchen mit dem Drachen“ ist eine Fortsetzung des erfolgreichen Debutromans „Der Zopf“ (auf Deutsch 2019) von Laetitia Colombani, eine 1976 geborene französische Schauspielerin und Regisseurin, die bei den Dreharbeiten für den Film „Der Zopf“ in Indien die Idee für ihr neuestes Buch bekam. Im dritten Roman der Erfolgsautorin mit sich fortsetzendem Cover-Design, wird Lalita zur Titelheldin und Sinnbild für ein neues, selbstbestimmtes Frauenleben in Indien mittels Bildung. Im Mittelpunkt der Erzählung steht jedoch die französische Lehrerin Lena, die nach einem schweren Schicksalsschlag nach Indien fährt, um ihre Trauer zu bewältigen. Das Mädchen mit dem Drachen rettet sie in mehrfacher Hinsicht, vor einem versuchten Suizid und vor der Sinnlosigkeit ihres Lebens. Aus dem anfänglich vorsichtigen Kontakt entsteht die Idee, eine Schule zu gründen für die Kinder des Dorfes gegen alle Widerstände von Eltern und ausbeutenden Erwachsenen, die die Kinder als Arbeitskraft brauchen. Trotz aller Rückschläge gelingt das Unterfangen auch mithilfe von Preeti, die eine Frauenwehr gegen Männergewalt gegründet hat. Wie bereits in den beiden vorherigen Büchern stehen weibliche Protagonistinnen im Mittelpunkt bei Colombani, in „Der Zopf“ sind es zunächst unverbundene Erzählstränge situiert in Indien, Italien und Kanada, „Das Haus der Frauen“ beschäftigt sich mit der Entstehung und der heutigen Realität eines Frauenhauses in Paris aus den Perspektiven der historischen Gründerin und einer ehrenamtlich helfenden Juristin mit Burnout. Auch wenn ihre Figuren gerne Stereotypen bedienen, beschreibt Colombani flott inszeniert und schlüssig erzählt, dass Altruismus und feministisches Engagement dabei helfen, neuen Lebensmut zu entwickeln und die Lebenssituation von allen Protagonistinnen zu verbessern.
Laetitia Colombani: Das Mädchen mit dem Drachen, Fischer 2022, 268 S., 22 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Col 4/3
Die lustlosen Touristen
„Die lustlosen Touristen“ sind ein ungleiches Paar: Ulia ist eine baskische Musikwissenschaftlerin und gescheiterte Mezzo-Sopranistin, Gustavo ein spanischer Jurist, Genussmensch und Besitzer eines neuen BMW, mit dem beide aufbrechen, die Heimat von Ulia zu erkunden. Die 1981 in Vitoria-Gasteiz, Hauptstadt der autonomen Region Baskenland, geborene Autorin hat ihren Roman auf Baskisch geschrieben und dann selbst ins Spanische übersetzt. Der Road Trip verbindet Orte und Zeiten, so entblättert sich die dramatische, eng mit dem baskischen Widerstand verknüpfte Familiengeschichte der Ich-Erzählerin. Zunächst in Andeutungen, die ohne Wikipedia gar nicht zu entschlüsseln sind für uninformierte Menschen, nach und nach konkreter und lebendiger wird die Geschichte der ETA, insbesondere der kriegerische Arm der baskischen Befreiungsbewegung. Parallel wird die Geschichte des britischen Komponisten Benjamin Britten (1913-1976) in interessanten biographischen Einschüben erzählt als Thema der geplanten Promotion Ulias. Der schwule Pazifist verlässt zu Beginn des zweiten Weltkriegs seine englische Heimat als Kriegsdienstverweigerer. Große Fragen werden damit aufgeworfen, ob Unterdrückung Gewalt legitimiert oder der Staat legitimiert ist, zu seiner Sicherung Gewalt anzuwenden. Das spannende Geflecht aus Informationen und Episoden auch aus dem Leben von Ulias Mutter mutet wie ein Krimi an, es gibt viele Hinweise auf der Suche nach Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit gegenüber Unwahrheiten, Lügen, Vertuschungen. Wie es sich für einen Kriminalroman gehört, werden am Ende alle Fäden aufgelöst bzw. verknüpft, alles ergibt einen Sinn, sogar der Verdacht, dass Gustavo fremd gegangen ist. Es erfolgen jedoch keine großen Veränderungen daraus, es bleibt die lakonische Stimmung der lustlosen Touristen, sehr empfehlenswerte Lektüre in unseren kriegerischen Zeiten.
Katixa Agirre: Die lustlosen Touristen; Edition CONVERSO 2022, 321 S., 20 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Agi 1/1
Die Sekretärinnen
Elin Wänger wurde 1882 im schwedischen Lund geboren, sie war eine feministische Autorin und Journalistin, die u.a. für das Frauenwahlrecht kämpfte. Ihr Debütroman „Die Sekretärinnen“ wurde auf Anhieb ein großer Erfolg, der auch verfilmt wurde. Zunächst mag es befremdlich erscheinen, ein Buch über schwedische Sekretärinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Kategorie Fremdheit zu verbinden. Die vier Protagonistinnen, sehr verschieden in Herkunft, Alter und Zukunftsvisionen, bilden eine lustige Notgemeinschaft als WG in zwei Zimmern einer Wohnung, die noch von einer Witwe und ihrem erwachsenen Assessoren-Sohn bevölkert wird. Ihre Arbeit als Sekretärinnen und der Versuch, ihr finanzielles Elend aufgrund von eklatanter Unterbezahlung gemeinsam zu meistern verbindet sie eng miteinander. Als Frauen sind sie traditionell fremd als Erwerbstätige in einer misogynen Arbeitswelt, in der Männer selbstständige Frauen als minderwertig oder leicht zu eroberndes Objekt betrachten. Die Ich-Erzählerin kämpft aus Überzeugung für ihre Autonomie, woraus eine distanziert ironische Haltung zum Geschehen erwächst. Die tragikomischen Schilderungen des Buches halten so bis zum Schluss die Spannung. Dieses schmale und flott geschriebene Büchlein garantiert Unterhaltung noch heute in Zeiten der Power-Frauen, die Karriere und Kind selbst in Corona-Zeiten bestens managen, m.E. sind die Herausforderungen dieselben.
Elin Wägner: Die Sekretärinnen, ecco 2022[1908], 174 S., 20 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Wae 1/1
Interessant für einen aktuellen feministischen Diskurs ist die zwar nicht repräsentative aber doch auffällige Zahl von Heldinnen, die sich fremd fühlen und ihre Integration in die jeweilige männliche oder durch eine andere Kultur geprägte Gesellschaft vorantreiben.
Silvia Federici (2021) unterscheidet drei verschiedene politische Strömungen im modernen Feminismus, der materialistische oder marxistische, der postmoderne und der liberale. Diese Ansätze kritisch zu hinterfragen bedeutet, widerständige von konservativen Ansätzen zu unterscheiden. Die Mitbegründerin der Bewegung „Lohn für Hausarbeit“ 1972 mahnt jedoch auch an, Polarisierungen wie privat vs. politisch oder marxistische vs. queere Ansätze zu vermeiden angesichts aktueller Krisen, von denen weiterhin Frauen hauptsächlich betroffen seien. Im gleichstellungsorientierten Diskurs schon immer gern genutzte Begriffe wie gleiches Recht auf Bildung, Einkommen und Besitz sollten kritisch auf ihre Implikationen überprüft werden in Sachen systemischer Anpassung oder Veränderung. Ein gutes analytisches Instrument scheint das der Reproduktion zu sein, die ein klarer Indikator dafür ist, wie Ausbeutung und Verstetigung von Gewaltverhältnissen funktioniert.
In den oben beschriebenen Büchern finden sich folgende Merkmale:
- „Die erste Frau“ vermittelt zwar mythische Anklänge, aber meint ganz materialistisch die erste Frau des Patriarchen und Mutter seines Sohnes, soweit im System, aber auch die abwesende Mutter der Hauptfigur, die sich beide mehr Freiheiten dadurch nehmen können. Die Tochter bzw. Enkelin erhält über Bildung, die ihr der Großvater ermöglicht, sowie Besitz, den sie außerhalb der tradierten Norm von ihrem Vater erbt, Autonomie und Verantwortung. Eine matrilineare Verbindung bleibt trotz Mutterlosigkeit der Protagonistin erhalten in der Schlussszene, in der die Enkelin ihre beiden Großmütter im Regen miteinander tanzend beobachtet. Bei Makumbi findet sich der Fortschritt in der Entwicklung von einem wertlosen Mädchen zu dem Oberhaupt einer Familie im Bruch mit den tradierten Werten, aber im System, denn sie wird zukünftig wieder eine Ehefrau werden, so wie es aussieht.
- Die französische Lehrerin bei Colombani bringt das europäische Ideal der Bildung nach Indien, und bekämpft so neben ihrem eigenen Leid auch die Kinderarbeit. Tradition erscheint so als strukturelle Gewalt, der ein liberales Modell der Entwicklungshilfe entgegengestellt wird, vor allem erfolgreich für den Westen.
- Die drei sehr verschiedenen, aber kunstvoll miteinander verwobenen Erzählstränge bei Aguirre stellen nicht die Ich-Erzählerin als Handelnde in den Mittelpunkt, anstelle von Selbstermächtigung entsteht eine tastende und explorierende Haltung. Entsprechend wenig eindeutig sind die Übersetzungen des baskischen Originaltitels „atertu arte itxarone“, z.B. „Nehmen Sie das Kunstwarten heraus“ oder „Warten Sie bis zum Torhüter“, etwas konkreter mutet die englische Fassung an „Wait until it comes out“. Auf jeden Fall spielt das Warten eine Rolle, etwa wie die Dinge sich entwickeln. Die Beschreibung von struktureller staatlicher Gewalt nicht nur in Spanien bleibt eindrücklich, die Heldin ist keine, sondern forscht weiter, alles andere als lustlos.
- Elin Wänger entlarvt das patriarchale System mit Witz und Humor– steht sie damit außerhalb im Sinne postmoderner Diskurse? Ja, denn die Ich-Erzählerin entzieht sich auch den Erwartungen nach einer baldigen Ehe als Lösung ihrer finanziellen Probleme.
Gabriele Grimm
Alle rezensierten Bücher im Überlbick:
Jennifer Nansubuga Makumbi: Die erste Frau, InterKontinental 2022, 527 S., 26 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Mak 2/1
Laetitia Colombani: Das Mädchen mit dem Drachen, Fischer 2022, 268 S., 22 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Col 4/3
Katixa Agirre: Die lustlosen Touristen; Edition CONVERSO 2022, 321 S., 20 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Agi 1/1
Elin Wägner: Die Sekretärinnen, ecco 2022[1908], 174 S., 20 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Wae 1/1