Lesetipp: Grete Weil, „Der Weg zur Grenze“

Grete Weil, geboren 1906 in Rottach-Egern, wuchs in einer großbürgerlichen Familie mit einem erfolgreichen, als Rechtsanwalt tätigen Vater auf. Die Familie identifizierte sich weitaus mehr mit der bayrischen Lebensart, z.B. mit dem Skilaufen, als mit ihren jüdischen Wurzeln. Dennoch flieht beim Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 der Vater mit seiner Tochter in ein Dorf unterhalb der Zugspitze. Auf einem Schild am Dorfeingang wird später stehen, dass Juden diesen Ort auf eigene Gefahr betreten.

Grete Weil studierte Germanistik, begann früh zu schreiben und verkehrte in dem literarischen Kreis um Erika und Klaus Mann. Im Jahr 1932 heiratete sie ihren Cousin Edgar, der eigentlich das pharmazeutische Unternehmen seiner Familie in Frankfurt/Main übernehmen sollte, jedoch als Dramaturg arbeitete. Das Ehepaar entschied sich aufgrund der zunehmenden Judenverfolgung im Dritten Reich, 1935 nach Holland zu emigrieren. Dort wurde Edgar Weil 1941 verhaftet und anschließend im KZ Mauthausen umgebracht.

Grete Weil tauchte unter und war Teil des Widerstandes in Holland. Sie kehrte 1947 nach Deutschland zurück und arbeitete bis zu ihrem Tod als freie Schriftstellerin und literarische Übersetzerin in Grünwald bei München. Ihr Anliegen, im Schreiben ihre eigene wie die deutsche Vergangenheit zu bewältigen, fand aufgrund von offenkundigen Widerständen gegen eine Veröffentlichung ihrer Werke erst in den 1970ern in der BRD Beachtung. Grete Weil starb 1999.

Der Roman „Der Weg zur Grenze“ enthält viele autobiographische Details, weshalb Grete Weil diesen zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlichen wollte. Das Buch entstand im Winter 1944/45, in dem es Hoffnung gab, nachdem die Alliierten im Juni in Frankreich gelandet waren. Wie es heißt, schrieb Weil auf der Treppe zum Dachboden, weil nur dort genügend Licht zum Schreiben war.

Im Kern erzählt der Roman die Liebesgeschichte zwischen Monika und Klaus, diese entspricht der Liebesgeschichte von Grete und ihrem Mann Edgar. Weil ging es aber nicht nur um die persönliche Verarbeitung ihres Schicksals, sondern auch um die Darstellung einer exemplarischen Geschichte darüber, wie die kulturelle wie intellektuelle Freiheit der Goldenen Zwanziger fortschreitend eingeengt wurde durch zunehmenden politischen wie wirtschaftlichen Druck. Durchaus selbstkritisch gegenüber den deutschen Intellektuellen beleuchtet der Roman auch die Situation der mittelständischen Unternehmen zwischen der Bedrohung von Links und von Rechts.

Die Liebesgeschichte ist eingebettet in eine 1936 spielende Rahmenhandlung. Monika Merton, eine junge, jüdische Münchnerin, deren Mann bereits im KZ Dachau getötet worden ist, befindet sich zu Fuß und auf Skiern auf dem Weg zur deutsch-österreichischen Grenze. Durch Zufall trifft sie im Zug einen jungen Bekannten, den Lyriker Andreas von Cornides, der als Figur politisch eher unbedarft bis naiv und mit narzisstischen Zügen ausgestattet ist. Ihm erzählt sie ihre Geschichte: Szenen ihres Lebens in München und im aufgewühlten, rasanten und aufgeheizten Berlin Anfang der Dreißigerjahre, von ihrer Liebe zu ihrem Cousin Klaus, ihrer Ehe, von Reisen und der Arbeit an einer alternativen, ländlichen Schule in Bayern, bis die Machtergreifung der Nazis und der wachsende Antisemitismus allem ein Ende bereiten.

Der Roman besteht aus drei unterschiedlich langen Teilen, betitelt mit den Namen der Protagonist:innen Monika, Klaus und Andreas. Letzterer kann sich am Ende nicht entscheiden, auf welche Seite der Grenze er gehört und bezahlt seine träumerische Unentschiedenheit mit dem Leben. In ihrem fiktiven Protagonisten Andreas ließe sich auch ein Alter-Ego von Grete Weil sehen, die sich als Monika willensstark positioniert und überlebt.

Der Stil des Romans ist vom Expressionismus geprägt, auf den sich Weil explizit bezieht, indem sie ein Gedicht von Klabund ihrem Text voranstellt. Bereits überholt während sie ihren Text verfasste, wird dieser Stil von der Autorin auch immer wieder gebrochen. Bewusst oder unbewusst changiert Weil gemeinsam mit den Leser:innen zwischen klar einzuordnender Vergangenheit und einer traumatisch bedingten Überflutung von Gefühlen und Erinnerungen. Diese Vermengung von persönlicher und literarischer Motivation, erschwert das Lesen heute. Der Sprachduktus vermittelt sich teilweise schwülstig, worunter die Authentizität leidet, aber gerade in dieser Unvollkommenheit von Sprache als Ausdrucksmittel unter extremen Bedingungen, ist und bleibt der Roman ein wichtiges Zeitdokument, das zu lesen sich lohnt.

Zeit ihres Lebens blieb Grete Weil eine unabhängige Frau, die das Grauen der Nazi-Herrschaft überlebte und dafür kämpfte, den Deutschen einen Spiegel vorhalten zu wollen mit ihrem Schreiben als Waffe. 

„Je dichter sie an den schwarzen Krater des Schmerzes herantreibt, desto mehr weicht die Angst von ihr.
Sie sieht sich nach einer Waffe um und findet keine andere als die eigene Stimme. Aber eine schreiende Menschenstimme ist scharf wie geschliffener Stahl.“ (S. 324)

Grete Weil: Der Weg zur Grenze, C. H. Beck 2022, 340 Seiten, 25 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Wei 1/6

Ele

Kommentare sind geschlossen.