Revolution im Stillen – eine Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen erzählt

Selbstbestimmt stillen das war in Deutschland lange nicht selbstverständlich. Dagmar Sträter-Müller ist Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen. Sie war dabei, als Frauen* in den 1980ern begannen, ihre Stillerfahrungen systematisch zu teilen und für ein selbstbestimmtes Stillen zu kämpfen und damit in Deutschland eine Art ‚Still-Revolution‘ starteten.

Dagmar Sträter-Müller, Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen.

„Ich bin Dagmar Sträter-Müller. Ich bin 1951 geboren.“ Gerne lauscht man Dagmars Stimme – fast so, als würde die eigene Großmutter von „früher“ erzählen. Etwas nervös scheint sie am Anfang noch zu sein. Wenn es aber ums Stillen geht, wird ihr Ton ernst: Sie erinnert sich an die Geburt ihres ersten Kindes, den Schwierigkeiten beim Stillen und an das medizinische Personal, das dem natürlichen Prozess des Stillens damals häufig im Weg stand.

Selbstbestimmtes Stillen: Dafür kämpfte Dagmar als Stillberaterin in Stillgruppen mehrere Jahre mit Herzblut und opferte dem teils ihr eigenes Studium und wertvolle Zeit mit der Familie. In ihrem Arbeitszimmer im Sauerland erzählt sie DENKtRÄUME über knapp drei Stunden, welche Missstände es beim Stillen in den 1980ern in deutschen Krankenhäusern gab und wie sie und viele weitere Frauen* das dazu brachte, eine überregionale Arbeitsgruppe, die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen (AFS), zu gründen. Für diesen Beitrag wurden Ausschnitte aus dem exklusiven Audiomaterial des Zeitzeug*innengesprächs mit einer der Mitbegründerinnen der AFS aufbereitet.

Die Anfänge einer Stillrevolution – Dagmar erzählt:

„In Deutschland war es Anfang der 80er gar nicht so einfach, stillen zu wollen. Das fing im Krankenhaus schon an, wenn es hieß: ‚Du kannst sowieso nicht stillen‘, sobald das Stillen nicht vom ersten Tag an klappte. In den ersten drei Tagen kommt in der Regel auch so gut wie keine Milch aus der Brust. Die kleinen Tröpfchen am Anfang des Stillens sind hochintensiv nährstoffhaltig und geben dem Kind wichtige Abwehrstoffe. Die wurden den Kindern im Krankenhaus häufig vorenthalten und gleichzeitig wurde dafür gesorgt, dass die eigentliche Milchproduktion der Mutter, die erst nach zwei drei Tagen wirklich eintritt, gar nicht erst in Gang kam. Aus dieser Sicht war das ein Verbrechen, was man den Frauen da angetan hat.

Die Frauen kapierten dann langsam: ‚Was passiert da eigentlich im Krankenhaus? Was tut man uns da an?‘ Der Freiheitsgedanke war ein wesentlicher Antrieb, der dazu führte, dass Stillgruppen überhaupt erst entstehen konnten. Gruppen, die sich freimachen mussten von den Vorurteilen und Maßnahmen der Gesundheitsbranche. Es war in gewisser Weise auch eine Revolution.“

Der Startschuss für die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen

„Ich wusste, dass in Deutschland auch La Leche League-Gruppen (Anm. d. Red.: Die La Leche League ist eine internationale Organisation, die in Fragen rund um das Stillen berät. Sie wurde 1956 in den USA gegründet.) existieren mussten und habe mich dann erkundigt und eine Gruppe nördlich von Düsseldorf in Tönisvorst gefunden. Wir haben uns recht bald untereinander getroffen: In Düsseldorf und in Neuss – mal bei der einen, mal bei der anderen zu Hause. Ich hatte mich zu dem Zeitpunkt als Stillberaterin bekannt gemacht. Das Problem war: Ich konnte zwar meine Telefonnummer bekannt geben und im Krankenhaus Aushänge verteilen, aber das war nichts Offizielles. Es war ein privates Angebot. Wenn man sich Beraterin nennen wollte, dann musste man eine offizielle Anerkennung durch die La Leche League in den USA bekommen.

So haben wir uns zusammengeschlossen, um eine überregionale Arbeitsgruppe zu bilden. Wir wollten offiziell als Stillgruppen auftreten, ohne durch die USA gegängelt zu werden. Im März 1980 haben wir uns in Bad Godesberg getroffen. Es waren etwa 40 Frauen, die aus dem gesamten Bundesgebiet zusammenkamen. Es sollte eine offene Arbeitsgruppe sein, die sich gegenseitig ohne Hierarchien unterstützte. Das waren Frauen, die aus den unterschiedlichsten sozialen, beruflichen und wahrscheinlich auch politischen Richtungen kamen. Diese Gründung war der Startschuss für die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen.“

Telefonkabelsalat zu Mittag: Alltag einer Stillberaterin

„Die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen war zunächst eine unscheinbare Arbeitsgemeinschaft, die auf der gesellschaftlichen Ebene noch keine große Rolle spielte. Man traf sich als Zielgruppen untereinander gar nicht so oft, aber der Austausch war intensiv. Man muss sich klar machen: Es gab zu dem Zeitpunkt weder Internet noch Handy. Vieles der Beratungsarbeit fand über das Telefon statt. Die Anrufe waren keine organisierten Anrufe, sondern die Frauen riefen an, wenn sie Rat brauchten. Ob man gerade beim Mittagessen oder die Kinder am Einschlafen waren – irgendwo platzten die Anrufe einfach hinein. Die Gespräche waren manchmal ganz schön lang und die Telefone hatten noch eine Schnur. Manchmal musste man tatsächlich das Gespräch unterbrechen und zurückrufen, weil das Chaos mit den Kindern einfach zu groß wurde. Ich habe noch bis zur Geburt des dritten Kindes mein Psychologiestudium in der Uni Düsseldorf weitergemacht. Ich hatte eigentlich alles, was ich zum Diplomabschluss brauchte, nur die Diplomarbeit nicht. Das war dann mit den drei Kindern und der intensiven Stillgruppenarbeit zu viel. Es war zwar nicht immer ganz einfach, aber trotzdem war es mir wichtig, den Frauen zu helfen. So in etwa war das Schicksal aller Frauen, die Stillberatung machten.“

Entgegen der Norm – Stillberaterinnen* in Krankenhäusern

„Wir wandten uns auch an Krankenhäuser, um die Säuglingsschwestern dort zu beraten. So konnten wir besprechen, wie wir Müttern am besten helfen, die Milchproduktion von Anfang an durch häufiges Anlegen anzukurbeln. Es bringt nichts, wenn man Säuglinge nachts einfach wegschließt und die Frauen dann ohne Kinder lässt. Das war damals noch gängige Praxis. Häufig war es die medizinische Ebene, auf der einem Steine in den Weg gelegt wurden. Und diese Ebene musste man glätten. Der Weg war mit Hebammen, Kinderärzten und Säuglingsschwestern einen guten Kontakt herzustellen und im Austausch vernünftig miteinander zu reden – und dabei Vorurteile und Hierarchien abzubauen. Was die Arbeitsgemeinschaft auch in die Wege brachte, waren Gremien, die sich mit speziellen Themen befassten. In erster Linie waren das medizinische Fragen. Zum Beispiel Spezialfragen, was das Stillen und Medikamente anging oder rechtliche Fragen beim Stillen in der Berufstätigkeit. Und so gab es dann innerhalb der Arbeitsgemeinschaften, Ansprechpartner, die bundesweit verteilt waren und sich mit bestimmten Themen besonders gut auskannten.“

Von der Besenkammer ins neue Selbstbewusstsein

„Ich kann mich noch erinnern, dass ich mal meine Kinder in einem Café stillen wollte und ich sehr energisch gebeten wurde, das Kind hier nicht zu stillen. Man wies mir dann einen Raum zu, eine Besenkammer, und da durfte ich das Kind stillen. Das hat sich mittlerweile zum Glück etwas geändert. Allein die Tatsache, dass Frauen ihre Kinder überhaupt stillen wollen und es dann auch tun hat sich geändert. Das heißt aber auch nicht, dass jede Frau ihr Kind stillen will. Niemand MUSS ein Kind stillen. Kinder, die heutzutage mit künstlicher Babynahrung gefüttert werden, werden genauso gesund und glücklich. Aber wenn die Frauen stillen möchten, werden ihnen heute hoffentlich keine Steine mehr in den Weg gelegt. Ich glaube, dass die Stillgruppen einen erheblichen Anteil an diesem neuen Selbstbewusstsein der Frauen haben.“

Heute blickt Dagmar optimistisch in die Zukunft eines selbstbestimmten Stillens in Deutschland. Die 73-Jährige beschloss im Laufe der 1990er Jahre ihre ehrenamtliche Arbeit als Stillberaterin in der AFS niederzulegen. Die Funktion einer Stillgruppe läge im Austausch zwischen stillenden Frauen*, findet Dagmar. Und sie, die „schon fast in Richtung Oma geht“, wolle das lieber der jüngeren Generation überlassen. Die Arbeit der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen allerdings bleibt unverändert. Seit 1988 ist der Bundesverband als gemeinnütziger Verein eingetragen und setzt sich bis heute für stillende Mütter ein. Die AFS bleibt damit ein einzigartiges Beispiel für eine überregional organisierte Graswurzelbewegung von Frauen* für Frauen* in Deutschland.

DENKtRÄUME beschäftigt sich dieses Jahr in seinem DDF-Projekt mit Materialien der AFS aus seinem Archiv. Die Dokumente werden digitalisiert und für die weitere Forschung aufbereitet. Mehr Infos zum Projekt findet ihr hier.

Autorin: Lena Gaul

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