Das mit verschiedenen Genres spielende Buch mit dem knappen und prägnanten Titel „Hässlichkeit“, ist eine überaus emotionale und kluge Auseinandersetzung mit einem Thema, das gerade Frauen immer noch belastet in einer von Stereotypen, Optimierung und Objektstatus geprägten globalen Gesellschaft. Dabei beleuchtet Hilal aus der Position einer zutiefst Betroffenen viele spannende Aspekte von einer Schönheitsindustrie in ihrer politischen Bedeutsamkeit über Zeiten und Kulturen hinweg. Mit ihrer Pubertät und ihren enttarnten Hoffnungen auf eine bis dahin imaginierte, zukünftige perfekte Weiblichkeit, beschreibt die Autorin biographisch ihren Selbsthass. Aktiv und kreativ eignet sich Hilal das eigene Bild wieder an und verarbeitet belastende Emotionen mit Gedichten. Dabei verfällt sie nie in einen Opfermodus und macht es so ihren Leserinnen leichter, sich zu identifizieren ohne selbst diesen Status zu übernehmen. Auf der theoretischen Ebene beschäftigt sich Hilal mit Imitation als versuchte Assimilation, deren Schatten das Imposter-Syndrom, „dieses zeitgenössische Gefühl des Betruges“ (S.23) ist, verbunden mit dem bleibenden Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit.
Nach dem stark autobiographisch geprägten ersten Kapitel, geht es in den folgenden um einzelne „hässliche“ Details und wer daraus Profit schlägt und schlug. So entstand die Schönheitschirurgie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zunächst als Rekonstruktion versehrter Gesichtszüge von Soldaten. Nachdem diese Klientel versorgt war, entdeckte der berühmte Chirurg Jaques Joseph die ästhetische Selbstoptimierung insbesondere bei „jüdisch“ anmutenden oder seienden Nasen, für mehr Lebensfreude (sic!) der Betroffenen argumentierend. Die antisemitische Rassenlehre entschied dann nur wenig später auch ausgehend vom Aussehen, über Leben und Tod. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte der Pfarrer Lavater die pseudowissenschaftliche, jedoch ausgesprochen populäre Lehre der Physiognomie als Interpretationsgrundlage für äußere Merkmale, von denen mensch valide auf innere Charakterzüge schließen könne. Die starken rassistischen Züge der nationalsozialistischen Ideologie wurden so biologistisch unterlegt als eine instinktive Reaktion auf äußere Merkmale einer Person. Noch heute in Zeiten einer vermeintlich bunten, allseits propagierten Diversität meint Hilal, dass „unsere Reaktion auf die äußere Form der Anderen (kursiv im Original)“ ihr „fortwährend im Alltag, in der politischen Debatte, in mir, überall“ (S. 66) begegne.
Aber auch die Schönheitschirurgie entwickelt sich mit dem Zeitgeist. Unter dem Schlagwort Ethnic Rhinoplast bietet der Hollywood Chirurg Rahban eine individuelle Nasenkorrektur an, „innerhalb der ästhetischen Grenze jeder Ethnie“ (S. 84). „Sich ästhetisch zu assimilieren“ (S.91) und so einem stereotypen Statussymbol zu entsprechen, holt eine mögliche, heutzutage auch gerne als politische Forderung propagierte Freiheit der Selbstbestimmung über einen nicht mehr seiner natürlichen Authentizität verpflichteten Körper, ein. Dieser Trend setzt sich auch fort in den digitalen Möglichkeiten einer visuellen Optimierung, die das Objekt aus jedem Raum von physisch bis örtlich heraus nimmt unter völligem Verlust der Authentizität. Das Paradoxon, dass eine vom queeren Ansatz gepriesene vermeintliche Freiheit der Selbstgestaltung auch als Avatar, eine Anpassungsleistung an den Mainstream bedeutet in einem kapitalistischen System, das kybernetisch gedacht, das Subjekt verabschiedet zugunsten von Akkumulationsprozessen. Subjekte holt Hilal jedoch sofort wieder herein, indem sie im Anschluss eigene digitale Konversationen dokumentiert mit „gezeichneten Menschen, deren Leib die Geschichte trägt?“ (S. 109)
In einem dritten Kapitel, überschrieben mit dem Titel „Wolfsmädchen“, wendet sich die Autorin einem zweiten Feld der Normierung zu, der Körperbehaarung. Auch hier gibt sie zahlreiche Beispiele dazu, wie die Wissenschaft weiterhin „Abweichung als Krankheit und Problem für die Entwicklung der Menschheit“ (S.121), insbesondere gegen Frauen argumentierend, in einem gesellschaftspolitischen wie kulturellen Kontext nutzt. Der Blick spielt eine große Rolle, so früher in der öffentlichen Ausstellung von sogenannten Freaks, die halfen, das Eigene von dem Fremden abgrenzen zu können in einem fein austarierten Gleichgewicht zwischen Anziehung und Abscheu. So analysiert von der Bioethikerin Rosemarie Garland-Thomson in ihrem Artikel zu „Visual Rhetorics“, in dessen Mittelpunkt die Mexikanerin Julia Pastrana steht, eine bis in die 1970er Jahre sogar noch nach ihrem Tod öffentlich ausgestellte Frau mit viel Körperbehaarung. Folgerichtig müssen Frauen sich der Tortur der Haarentfernung unterziehen, wollen sie nicht ins gesellschaftliche Abseits und einer Ähnlichkeit mit Affen gestellt werden, oder sie entscheiden sich, Feministin zu werden. Nach dem 2. Weltkrieg und aufgrund eines Lieferengpasses an Nylonstrümpfen, hätten Frauen zum Rasierapparat gegriffen, vom Kapitalismus sofort aufgegriffen, gibt es immer noch einen breiten Markt für Artikel der Haarentfernung, nun unter der Ägide von vermeintlicher „Hygiene, Klasse und der Weiblichkeit“ (S. 148). Noch eine Stufe weiter, gab es eine amerikanische Initiative in Afghanistan nach dem Krieg gegen Russland namens „Beauty without Borders,” die explizit afghanischen Frauen ihr „Selbstwertgefühl und die Unabhängigkeit wiederherzustellen“ helfen wollte mit Lippenstift und einem Ausbildungsprogramm zur Friseurin oder Visagistin. Die Kehrseite des Todes und der Verwesung bildet also die Kosmetikindustrie. Der Umgang mit der Lepra Erkrankung in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts führt dies vor mit wiederum einer radikalen Ausgrenzung der Betroffenen aus der Gesellschaft in die Nicht-Sichtbarkeit. Die Schwäche und der Verfall des normalen Alterungsprozesses machen Angst und führen ebenfalls zur Verleugnung. Dabei stellt sich immer wieder die Frage nach der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, die weder vom Individuum noch von der Schönheitsindustrie in letzter Konsequenz möglich ist, aber vorgespielt werden kann.
Das letzte Kapitel trägt den Titel „Versöhnung“ und möchte die Polarisierung überwinden „durch Zusammenhang und Verständnis – bis ein Körper einfach nur noch ein Körper sein darf und Bilder in niemandes Haut mehr einschneiden.“ (S. 194) Doch wie könnte das möglich sein, wenn doch 1980 Julia Kristeva bereits in ihrem Buch „Power of Horrors“ beschrieb, dass ein kollektiver sozialer Körper (S. 197) Normierung herstellt, emotional besetzt mit Abscheu gegenüber allem, was „Identität, die Systeme, die Ordnung stört“. eine Gesellschaft sollte also die Hässlichkeit brauchen, nicht nur in der Abgrenzung von ihr, sondern als Ort für widerständige Repräsentanz, die nur existiert im kontrastierenden Vergleich. Aber wie die Autorin nach getaner Arbeit berichtet: „Kaum liebe ich dieses Gesicht, verändert es sich. Ich habe so lange auf mich warten lassen, dass ein Gesicht mir darüber gealtert ist.“ (S. 198) Es gibt kein Entkommen, denn Hässlichkeit ist ein sozialer wie individueller Akt des Hasses und der Abwertung, von außen bereits im Inneren internalisiert. Oder wie Hilal es formuliert: „Mich interessiert Pussy statt Phallus nicht. Eine Körperpolitik der Genitalien ist zu klein gedacht. Die Hegemonie kontrolliert bereits unsere Gesichtszüge.“ (S. 113)
Moshtari Hilal: Hässlichkeit, Hanser 2023, 222 Seiten, 23,00 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Iaa 55
Gabriele Grimm