Lesetipps: „Glitch Feminismus, Petromaskulinität und digitale Gegenrevolution“

Drei eher schmale Bändchen, die es in sich haben, sollen hier kritisch gewürdigt werden in ihrer Aktualität.

Glitch Feminismus

Der Merve Verlag besticht seit 54 Jahren mit einer unverkennbaren, pastelligen Farbgebung des Einbandes, hier kombiniert mit Buchstaben, die ihren eigenen Schatten werfen. Die damit entstandene Lücke verweist bildlich auf Glitch, in der Technokultur ein Teil der Maschinenangst, ein Anzeichen dafür, dass irgendwo etwas schiefgelaufen ist. Glitch, etymologisch abgeleitet aus dem Jiddischen, wurde bereits in den 1960er Jahren von den ersten Astronauten in durchaus existentieller Not benutzt.

Legacy Russel geboren 1986 lebt in New York als Kuratorin, Autorin und Künstlerin. Im Klappentext ohne Sternchen versehen, im Text finden sich neue non-binäre Bezeichnungen. Russel selbst verweist auf sich als queer und Black. Ihr als Manifest bezeichneter Text möchte der als „kaputt“ bezeichneten Gesellschaft etwas entgegensetzen, positioniert in den Lücken des „Nicht-Funktionierens“ (S.18). „Glitch Feminismus drängt uns dazu, das Dazwischen als Kernbestandteil des Überlebens ins Auge zu fassen – weder maskulin noch feminin, weder weiblich noch männlich, sondern ein Spektrum, über das wir hinweg ermächtigt sein können, uns selber zu wählen und zu definieren.“ (S. 18) Dieses Postulat möchte Russel verwirklichen mit der Rückeroberung des Cyberfeminismus von Haraway und im Spiel mit den digitalen Möglichkeiten von Avataren.

In den auf die Einleitung folgenden 12 Teilen befasst sich die Autorin, mit verschiedenen Aspekten des non-binären Seins als Widerstand. Jedes Kapitel ist überschrieben mit einem Schlagwort und wird eingeleitet mit einem Foto einer Kunstaktion, mit deren Performer*innen sich Russel in dem anschließenden Text auseinandersetzt. So geht es um Verweigerung einer identitären Festlegung trotz der Selbstbezeichnung als „Black Artist“ von E. Jane. Der „kosmische Körper“ von Anais Duplan entgrenzt und gibt Form zugleich. Als Cyborg findet Juliana Huxtable eine Selbstverortung im Netz und Victoria Sin inszeniert „Gender als Prothese“ auf der Bühne, um ihre jeweiligen „Schatten“ dort zu werfen. Glitch möchte den binären Körper „ghosten“, heißt zum Verschwinden bringen in einer zunehmend vernetzten Welt der Online-Identitäten. Russel meint dazu, womöglich in einem gesellschaftlich umfassenderen Sinn, ein „Wegfallen des Selbst-Besitzes ist die Einwilligung darin, kein Einzelwesen zu sein, …“(kursiv im Original S. 66). Auch biographisch eingeschriebene Geschlechternormen und Stereotype sollen in einem Prozess „einer feierlichen Besetzung“ (S. 75) sich endlos verweigern und neu starten nach Sable Elyse Smith.

Wie der kosmische Körper ist auch das „Hyperobjekt“ von Timothy Morton gekennzeichnet von Entgrenzung: „Gender ist so groß, dass es unsichtbar wird“ (S. 77). Die Liste der widerständigen Praktiken setzt sich fort mit Chiffre, Anti-Körper, Haut, Virus, Remix als Ausdruck von Glitch, wobei sich allmählich ein Gefühl der Redundanz bei der Rezensentin breitmachte, neben einer Anerkennung des profunden Wissens der Autorin über diverse künstlerische Ansätze, die in diesem Buch aus der subkulturellen Aktion in eine intellektuelle Fassung gebracht werden. An Aktiva bietet Russel noch an, dass „Glitch mobilisiert“ (S.109) und „Glitch überlebt“ (S. 129).

Die Mobilisierung ist nicht zu verstehen als Aktivismus, sondern als permanentes Hinterfragen von Realitäten und Netzutopien, wobei die Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema oberflächlich und manifesthaft verbleibt. Nur die Behauptung von einer alternativen bis progressiven Bewegung macht diese noch zu keiner. Sprachgewandt versucht sich Russel einer, früher auch als phallozentristisch bezeichneten Sprache der eindeutigen Benennungen zu entziehen, da poststrukturalistisch betrachtet, der Signifikant das Signifikat bestimmt und Sprache damit eine patriarchalisch geprägte Ordnung schafft. Hier unterliegt sie wie schon ihre Vordenkerin Hélène Cixous (Die unendliche Zirkulation des Begehrens – Weiblichkeit in der Schrift, Merve 1977) einem Essentialismus, der gerade vermieden werden sollte. Doch die Hoffnung bleibt, dass wir „… kleine Risse im sozialen und kulturellen Algorithmus erzeugen“ (S. 133).

Legacy Russel: Glitch Feminismus, Merve 2021, 168 Seiten, 16 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: (in Anschaffung)

Petromaskulinität

Einen ganz anderen Weg wählt Cara New Daggett, Professorin der Politikwissenschaften am Virginia Tech mit dem Schwerpunkt feminist political ecology. In ihrem Buch analysiert sie „Petromaskulinität“ als Bezeichnung für ein rechtes, autoritäres Narrativ, das in toxischer Art und Weise gegenüber Klima, Frauen und Anderen eine durchaus fragile Männlichkeit, etwa eines Donald Trump, zu bewahren sucht. Daggett verbindet dabei die Konfliktlinien einer expliziten Leugnung des Klimawandels mit rassistischen und frauenfeindlichen Aktivitäten sowie einem ubw. Begehren der neuen und alten Rechten. Der Begriff Petromaskulinität meint eine sozial konstruierte Identität, die auf einer binär ausgerichteten Geschlechter-Ordnung basierend, herrschende Machtverhältnisse konservieren möchte. Dabei ist das fossile Brennstoffsystem per se gewalttätig in seiner Ausbeutung von Mensch und Natur. Die inzwischen entstandene Kritik daran, evoziert bei konservativen Kräften ein Gefühl der Bedrohung. Diese Kräfte sind zu identifizieren als kapitalistisch und männlich*, d.h. mit den damit verknüpften Werten identifizierend und reagierend mit einem expliziten Ruf nach einer „gewaltsamen, autoritären Ordnung“ (S.27).

Für ihre Analyse dieser Ordnung bezieht Daggett sich auf vier unterschiedliche Theoretiker des letzten Jahrhunderts, zwei davon Geflüchtete vor der Gewaltherrschaft Hitlers. Theodor W. Adorno als Vertreter die Frankfurter Schule entwarf mit anderen US-amerikanischen Wissenschaftler*innen 1949 den „autoritären Charakter“ als einen Erklärungsansatz für Faschismus und Antisemitismus. Bereits in den 1920er Jahren begann der jüdische, deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm autoritäre Familiensystemen zu erforschen und beschrieb in seinem Buch „Angst vor Freiheit“ von 1947 die Ambivalenz von Freiheit in psychosozialer Hinsicht. Der in Entfremdung und Angst begründete Autoritarismus erhellt für Daggett die psychoaffektiven Variablen einer Persönlichkeitsstruktur, die anfällig ist für antidemokratische Dogmen. Zur Aufrechterhaltung der fragilen narzisstischen Fassade und zur Abwehr der damit verbundenen Ängste, braucht diese Struktur autoritäre Mechanismen der Unterwerfung, zu denen auch die Verbrennung fossiler Energieträger zählt. Diese Macht reproduziert sich laut Michel Foucault in einem inneren Faschismus, „der uns die Macht lieben und genau das begehren lässt, was uns beherrscht und ausbeutet.“ (Zitat S. 30) Die „Männerphantasien“ von dem Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit aus dem Jahr 1974 liefern dazu ergänzend die Dynamik von Be- und Entgrenzung. Anhand von Texten faschistischer Freicorpssoldaten aus den 1920er Jahren, entwirft Theweleit seine Deutung des Faschismus als Abwehrmechanismus einer instabilen männlichen* Psyche. Diese muss ihr fragiles Selbstbild von Männlichkeit schützten mittels eines aggressiven Verhaltens nach außen, dem eine unbedingte Treue gegenüber Männerbünden nach innen gegenübersteht. Dieser auch als homoerotisch zu begreifenden Ökonomie des Begehrens wird heterosexuell in den polarisierten Frauenbildern von Heiliger und Hure kanalisiert. Diese spaltende Dynamik von einander widersprechenden Impulsen, vergleichbar mit Sadismus und Masochismus, findet sich nach Daggett ganz hervorragend auch in den divergenten Qualitäten von „Petro“ (S.33) und seinen Inszenierungen wider. Petroleum entsteht wie Kohle aus pflanzlichen und tierischen Fossilien, auf die lange enormer Druck ausgeübt wurde. Petro steht dabei etymologisch für Stein oder Fels, der als Benzin verflüssigt wird, diese Gegensätze lassen sich fortsetzten mit Tod (Fossilien) vs. Leben (Energie) und den Aktivitäten verdichten vs. ausströmen. In diesem Feld findet das autoritäre, in Bahnen gelenkte männliche* Begehren seine Bilder und Narrative von orgasmischen Eruptionen von Öl, in Rauchschwaden des „rolling coal“ aus manipulierten Verbrennermotoren und in der von Trump aufgewerteten „dig coal“ Identität in eigentlich abgehängten, von Armut geprägten Kohlerevieren. Wie bereits von Theweleit hergeleitet, installiert auch die weiße, reaktionäre und gewalttätige Bewegung der „proud boys“ in den USA eine Praxis der beschränkten Masturbation und einem vorgegebenen Begehren von imaginierten „echten“ Frauen, die ihre Konstruktion von „echter“ Männlichkeit nicht bedrohen. Bedrohlich sind jedoch auch BIPoC, Migrant*innen, Geflüchtete, LGBTQI+ und jegliche alternativen Lebensentwürfe, weshalb bereits jetzt eine „bewaffnete Rettungsbootpolitik“ (S.47) nicht nur von Rechten gefordert und umgesetzt wird. Die gar nicht so neuen Entwürfe von Maskulinität sind damit nach Daggett untrennbar verbunden mit denen von „Weiblichkeit“. Den psycho-affektiven Prozessen der Angstabwehr mit ihren Inszenierungen der Petromaskulinität machen als autoritär geprägte Struktur des Begehrens, es einer fortschrittlichen humanistischen Politik dem etwas Gleichrangiges entgegen zu setzen. Es braucht eine Bewusstheit über das zerstörerische, populistische Potential und der Bedeutung von Frauen als reale Wesen und als Platzhalter für männliche Phantasien. Eine fortschrittliche oder liberale oder feministische (Energie-)Politik diesem sehr funktionalen Konstrukt entgegen zu setzten, wird nicht reichen.

Cara New Dagget: Petro Maskulinität – Fossile Energieträger und autoritäres Begehren, Matthes und Seitz 2023, 73 Seiten, 12 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Ack 5

Digitale Gegenrevolution

Daggett (Petromaskulinität) berichtet in einem Interview im Deutschlandfunk, dass die ersten Reaktionen auf ihr Buch eine Welle von rechtem Hass gewesen sei. Im Kontext seiner Aktualität soll an dieser Stelle deswegen auf das Buch „Die digitale Gegenrevolution“ von Angela Nagle, eine 1984 in Texas geborene Wissenschafts-Autorin, hingewiesen werden. Bereits 2017 veröffentlicht, haben ihre Analysen nichts an ihrer Brisanz verloren bezüglich populistischer, rechter Ideologieproduktion und deren Verbreitung. Zu Beginn fokussiert Nagle, wie Nachrichten im Netz ihre massenhafte Wirkung erzielen, häufig verbunden mit einem absurden Insiderwitz-Humor (S. 13) und für eine Person nicht immer nachvollziehbar, die sich nicht in dieser Welt bewegt. Laut Nagle galt bis etwa 2010 das Netz als Utopie der Freiheit, die damit verknüpfte Anonymität förderte jedoch auch eine toxische Kultur, geprägt von Hass, Rassismus und Sexismus, in Form von offener Feindlichkeit gegenüber Frauen und allem, was als Fremd identifiziert werden kann. Diese Kultur im Netz wurde alsbald von der rechten Alt-Right-Bewegung erkannt, aufgegriffen und genutzt, ohne dass diese als eindeutige politische Kraft zunächst sichtbar wurde.

Der Begriff Transgression, in den 1960ern gemeint als fortschrittliches Überschreiten von Regeln vor allem in der Kunst, wurde z.B. 1994 aufgegriffen von der Feministin bell hooks als eine neue Erziehungspraxis zur Befreiung nach P. Freire. Das Prinzip der Transgression eigneten sich inzwischen Vertreter*innen der neuen Rechten an, um ihre frauenverachtenden und antimoralischen Einstellungen als neue Strategie gegen das Establishment zu positionieren und damit als antiherrschaftlichen Aktionismus zu verkaufen. Ebenso adaptiert wurde nach Nagle der progressiv gemeinte und linksorientierte Ansatz von Antonio Gramsci, wonach erst ein kultureller und gesellschaftlicher Wandel erfolgen muss, bevor die politischen Veränderungen folgen. So zählt zunächst nicht der Wahlerfolg für die Neue Rechte, sondern die Anschlussfähigkeit möglichst vieler Personen an eine im Netz sich etablierende, amorphe Bewegung. Auch in der BRD ist deutlich diese Tendenz der Verflachung moralischer, auf humanistischen Werten basierender Gesellschaftsnormen zu registrieren, zusammen mit einer Verschiebung radikaler Positionen vom Rand in die Mitte der Zivilgesellschaft. Die Folge dieser Entwicklungen wird von Nagle als anhaltender Kulturkampf bezeichnet, in dem die Rechte sich das Mäntelchen des Nonkonformismus und der Fortschrittlichkeit umhängt, damit der im Kern programmatisch konservative Rückschritt inklusive seiner gewalttätigen Aspekte von den Anhänger*innen geleugnet werden kann gegenüber denen, die auf die Gefahren einer zunehmend faschistischen Entwicklung, vergleichbar mit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, hinweisen.

In einem weiteren Kapitel befasst sich Nagle mit dem Phänomen einer zunächst linken und subkulturellen Ideologie, die durch den Kapitalismus vereinnahmt wurde. Nach sexueller Revolution und Schwulenbewegung findet der bereits etablierte Gender-Nonkonformismus seinen Platz im Netz mit einer langen Liste von subkulturellen Selbstbezeichnungen, die z.B. bei Google schon früh als gewinnmaximierende Diversifikation verstanden und genutzt wurden. Im Mainstream angekommen, entfaltet sich nach Nagle im Gender-Nonkonformismus jedoch auch eine Identitätspolitik der Opfer, die ebenso „fühllos“ seien bei der Verfolgung von Kritiker*innen wie die neue Rechte. Dieser aktuelle Progressivismus ist laut Nagle, rein identitär und selbstbezogen ausgerichtet, den toxischen Angriffen der Rechten auf die Freiheit zu begegnen, sei diese Bewegung nicht in der Lage.

Vergleichbar mit dem Begriff der Petromaskulinität von Daggett, benennt Nagle als Mannosphäre eine reaktionäre Sexualpolitik z.B. der Proud Boys. Diese abgehängten und frustrierten jungen Männer, deren Chancen auf Sexualität aufgrund einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich löst von dem bürgerlichen Konzept einer monogamen Ehe, verknappten, mit Frauenhass bis hin zu Massenmord im Falle eines im Netz gepriesenen Amokläufers reagieren.

Auch wenn die vielen von Nagle benannten Figuren und Namen der US-amerikanischen Alt-Right in Europa wenig bekannt sind, sind doch die von ihr aufgezeigten Mechanismen bei dem Vormarsch von frauenfeindlichen, rechten populistischen Bewegungen auch auf Europa zu übertragen. Die strategischen auch stark antifeministischen Grundlagen ihres Erfolges zu verstehen und wie dieser im Netz mit fake-news untermauert wird, ist essentiell, um dieser Politik strukturell und nicht ausschließlich argumentativ etwas entgegen setzten zu können. Es stellt sich nun die spannende Frage, ob der Glitch-Feminismus als Möglichkeit des Ausstiegs aus einem repressiven System verstanden werden kann oder wie von Nagle als Nabelschau kritisch hinterfragt werden muss. Ohne Zweifel ist es ratsam, die sich zunehmend entwickelnde breite Gegenbewegung, mit extrem konservativen und frauenfeindlich aufgestellten Kräften, nicht zu unterschätzen. Deren Abwehr basiert zwar psycho-affektiv auf Angst und Selbstzweifel, macht sie als anschlussfähige Bewegung junger im Netz aktiver Männer und alter, Klimapolitik verleugnender Politiker, jedoch zu einer realen Gefahr. Ihre Ausrichtung basiert vor allem auf ausbeuterischen Machtverhältnissen, die z.B. mit Gesetzesänderungen zu einer realen wie langfristigen Bedrohung für das Selbstbestimmungsrecht für Frauen werden kann.

Angela Nagle: Die digitale Gegenrevolution – Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zu Alt-Right und Trump, transcript 2018, 145 Seiten, 19,99 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Fd 22

Gabriele Grimm

Alle rezensierten Bücher im Überlbick:

Legacy Russel: Glitch Feminismus, Merve 2021, 168 Seiten, 16 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: (in Anschaffung)

Cara New Dagget: Petro Maskulinität – Fossile Energieträger und autoritäres Begehren, Matthes und Seitz 2023, 73 Seiten, 12 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Ack 5

Angela Nagle: Die digitale Gegenrevolution – Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zu Alt-Right und Trump, transcript 2018, 145 Seiten, 19,99 Euro
In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: Fd 22

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