Lesetipp: Ana Wetherall-Grujić, „Blutsschwestern“

+++ Triggerwarnung: Der rezensierte Roman enthält explizite Beschreibungen von Blut, psychischer und physischer Gewalt. Einige Personen könnten die Inhalte als verstörend und/oder belastend empfinden. Die Rezension erwähnt diese Beschreibungen. Wir raten bei Triggergefahr von der Lektüre von Rezension und Roman ab. +++

Ana Wetherall-Grujić ist in Österreich aufgewachsen und arbeitet als Journalistin unter anderem zu Menschen am Rande der Gesellschaft. Blutsschwestern ist ihr erster Roman.

Wien 2019, Sanja ist eine erfolgreiche, unabhängige Frau. Ihr Leben ist im Wesentlichen bestimmt durch Arbeit und Sex. Das wäre wohl auch so weitergegangen, doch bekommt sie mitten im körperlichen Vergnügen mit einem Date einen Anruf ihrer Schwester Ljiljana. Beide haben seit 10 Jahren nicht miteinander gesprochen, Sanja weiß daher sofort, dass etwas Gravierendes passiert sein muss.

Ljiljana ist im Krankenhaus, ihre halbe Gesichtshälfte ist zerschmettert, ihr Arm gebrochen. Die Mutter der beiden Schwestern ist außer sich, sagt Sanja, sie solle ihre Schwester nach Serbien zu einer Frau bringen, die ihr helfen werde. Auch wenn Sanja nicht weiß, was los ist, eins weiß sie sicher: sie wird ihre Schwester beschützen.

Nach einer Nacht im Auto finden die beiden die besagte Frau samt Schwester in der serbischen Provinz. Die Frau ist Anführerin der Mafia in der Region, aus der die Eltern der beiden Schwestern stammen. Nach entsprechender Bezahlung willigt sie ein, Ljiljana mit neuen Papieren zu versorgen. Denn in Serbien wird Sanja klar: Ljiljana hat ihren gewalttätigen Partner mit einem Messer getötet. Die Frauen bleiben einige Tage, in denen sich die eigene Familiengeschichte und die aktuelle Misere in rückblickenden Sequenzen entfaltet.

Der Hauptplot der Geschichte mag nicht spektakulär und eventuell auch etwas abgedroschen sein. Was allerdings heraussticht ist der Fokus auf Frauen. Alle wichtigen Figuren sind weiblich gelesen, gewitzt, bestimmend, mit Macht ausgestattet und brutal, wo es sein muss (oder auch nicht). Dennoch etwas langweilig und vorhersehbar. Was aus meiner Sicht spannender an dieser Geschichte ist, sind die Nebenerzählungen: Sanjas und Ljiljanas Eltern fliehen 1989 nach Wien mit Unterstützung der späteren Gastgeberinnen der beiden. Sie stammen aus verschiedenen ethnischen Gruppen des damaligen Jugoslawien und hätten in den aufkommenden Unruhen kurz vor Ausbruch des Jugoslawienkriegs keine gemeinsame Zukunft in diesem Land gehabt. Lesende bekommen einen kleinen Einblick in die Geschichte einer Familie mit Migrationshintergrund, die ihre vorhersehbarere Zukunft im Ursprungsland zugunsten einer ungewissen und härteren Zukunft in einem neuen Land zurückgelassen hat.

In einer zweiten Nebenlinie beschreibt Ljiljana in eigenen Gedankensequenzen, wie es zum Mord ihres Partners kam und Lesende lernen, dass auch die auf den ersten Blick Schwächste der Frauen es nicht ist. Und auch die Geschichte der Mafia-Schwestern vor dem Hintergrund des Jugoslawienkriegs wird angerissen und markiert eine dritte Nebenerzählung. Diese Nebenplots hätten aus meiner Sicht mehr Aufmerksamkeit verdient, da sie sich verweben ließen in den Zusammenhang von ethnischer Spaltung, Migration, Fremdheit, Gewalt und Krieg.

Auch wenn in der Geschichte die Frauen brutal und machtvoll sind, zeichnet sich irgendwo in mitten der serbischen Provinz vielmehr das Bild eines „wilden Balkans“, in dem das einzige Recht, das Recht des Stärkeren zu sein scheint. Und dass die Menschen dort „selbstverständlich“ barbarisch sind, weil demokratische und rechtliche Strukturen fehlen. Dies wird dieser Region nicht gerecht. Daher bleibt die Erzählung von starken (und brutalen) Frauen irgendwie im Außen, als beträfe sie die „zivilisierte, europäische Gesellschaft“ nicht. Der Gedanke „Ja, die da in Südosteuropa mit ihren eigenen Regeln“ lässt mich nicht los. Ich möchte nicht ausschließen, dass hierbei auch meine eigene Familiengeschichte und meine eigenen Erfahrungen mit der Region einen unbefangenen Blick auf den Plot erschweren.

Daher bleibe ich ein wenig unbefriedigt am Ende der Geschichte zurück. Dennoch ein starkes Buch mit starken Beschreibungen und Darstellungen. Personen, die explizite Gewalt nicht lesen wollen, rate ich von der Lektüre jedoch dringend ab.

Ana Wetherall-Grujić: Blutsschwestern, Kremayr & Scheriau 2024, 192 Seiten, 24,00 Euro

In unserer Bibliothek ausleihbar unter der Signatur: R Wet 1/1

Ojdana Triplat

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